»Was unterrichte ich als Erstes bei Anfängern und was als Zweites?«

Prof. i.R. Dr. Thomas Christaller
Prof. i.R. Dr. Thomas Christaller

»Was unterrichte ich in einem Anfängerkurs am besten als Erstes? Shihō-nage oder Ikkyō?« So habe ich 1986 Asai Sensei gefragt, als er wieder in Bonn Wochenendlehrgänge gab. Ich meine, er hat mir darauf keine wirkliche Antwort gegeben. Oder ich habe sie dummerweise vergessen. In jedem Fall habe ich weiterhin Training so gegeben, wie ich es bei anderen wahrgenommen habe. Ein Warm-Up mit vielen Drills und dann Techniken, die mir besonders gut gefallen haben oder die mir spontan in den Sinn kamen. Am Ende waren alle gut durchgeschwitzt und gingen fröhlich von den Tatami.

Über die Jahre habe ich sicherlich etliches vermittelt und bei Graduierungen konnten meine SchülerInnen auch immer alles zeigen. Aber oft habe ich vergessen, was ich vor wenigen Wochen unterrichte, was ich durch meine Vorlieben an anderen Techniken vernachlässigt hatte. Also begann ich, mir Notizen zu machen und vor dem jeweiligen Unterricht zu überlegen, was ich zum Thema machen möchte. Gleichzeitig verstand ich schrittweise, dass die Aikidō-Techniken selber nur der sichtbare Ausdruck von zugrunde liegenden Prinzipien sind. Insbesondere durch mein Training bei Watanabe Sensei verstand ich auf einmal, dass der erste Augenblick zentral ist. Je nachdem, wie die Körperhaltungen von Tori und Uke, die Bewegungsdynamik, Richtung und Geschwindigkeit, sind, entscheidet sich, welche Techniken naheliegend sind.
Seit vielen Jahren gebe ich im Hochschulsport der Universität Bonn Aikidō-Kurse. Naturgemäß ist da die Fluktuation sehr groß und in jedem Semester gibt es eine große Anzahl von Anfängern. Die meisten bleiben ein, zwei oder drei Semester und tauchen dann nicht mehr auf. Das ist anders als in einem Dōjō, in dem sich im Laufe der Zeit wirklich langjährige SchülerInnen ansiedeln. Im Hochschulsport habe ich also drei Monate maximal anderthalb Jahre Zeit, um so viel vom Aikidō zu vermitteln, dass die TeilnehmerInnen entscheiden können, ob das etwas für sie ist und sie das eventuell an einem anderen Ort weitermachen wollen. Nach etlichen Experimenten verläuft der gerade begonnene Anfängerkurs, nach der Pandemie sind es 90% Anfängerinnen, davon 85% Frauen, wie folgt.

Nach dem Warm-up, das aus etlichen Yoga-Asana bestand und auf alles vorbereitete, was danach kam, wurde am ersten Abend der Standardangriff Karate-dort Ai-hanmi geübt. Das Prinzip dahinter lautet: Du musst wissen, wie ein Angriff funktioniert, um Dich dagegen zu verwahren. Der Angriff sollte realistisch sein, also der Uke hat die Intention zu kontrollieren, zu attackieren und die Initiative zu bekommen. Da wir im Augenblick an einem Abend nur 60-minütige Trainingseinheiten haben, Raumnot und Höchstzahlen in einem Raum einer bestimmen Größe, konnte das nur einen ersten Eindruck geben. Aber die meisten haben zumindest verstanden, dass Karate-dort Ai-hanmi nicht einfach das Ergreifen eines ausgestreckten Armes ist und dann abzuwarten, was passiert.
Die erste Technik war dann Irimi-nage. Normalerweise wird der im Verlauf eines Taisabaki mit anschließendem Kaiten ausgeführt. Das erschien mir aber zu viel für die verfügbare Zeit. Also habe ich folgende Abkürzung gewählt. Einen großen Schritt hinter Uke und dann drehen auf der Stelle, so dass Tori und Uke in dieselbe Richtung schauen. In dieser Drehung wird auch der ergriffene Arm gedreht und zwar in einer Art Schraubbewegung, so dass am Ende die Handfläche nach oben zeigt. Gleichzeitig legt man dann ganz weich die andere Hand ins Genick von Uke. Nach ungefähr zehn Minuten hatten die meisten zumindest verstanden, wie das gehen könnte.

Aber das ist ja noch kein Irimi-nage, auch kein abgekürzter. Dazu muss Tori sich wieder auf der Stelle zurückdrehen, dabei mit der Hand im Genick einen Impuls in die Wirbelsäule geben und mit dem ergriffenen Arm diese für Irmi-nage typische kreisförmige Bewegung Richtung Uke machen. Das genügte, um den Uke (man bedenke: Anfänger!) zum Hinsetzen zu bewegen. Also noch kein Ushiro Ukemi.

Mir ist immer wichtig, dass alle am Ende Erfolgserlebnisse hatten. Natürlich merken alle, dass das noch nicht perfekt ist, aber das muss es ja auch nicht in der ersten Stunde sein. Wichtig ist mir dabei, dass ich schon damit weitere Prinzipien vermitteln kann. Mit das Wichtigste ist, den Angriff nicht abzuwehren, steif zu werden, zu reißen und zu zerren. Durch den halben Taisabaki und die Schraubbewegung des ergriffenen Armes wird das Aiki-Prinzip direkt erfahrbar. Durch den anschließenden halben Wurf wird klar, dass man gar nicht so viel muskuläre Kraft benötigt, um einen Menschen zu Boden zu bringen. Und: Dem Uke tut nichts weh!

Diese Prinzipien spreche ich explizit an. Ich überlass es nicht dem Zufall oder dem genauen Hinsehen von Anfängern, dass diese das entdecken. Nach meiner Erfahrung dauert das zu lange und manche lernen es auch nach Jahren noch nicht. Die Schülerinnen sollen einerseits genau hinschauen, aber dabei auch verstehen können, warum der Sensei genau diese Bewegung macht und keine andere. Dazu gebe ich folgenden Tipp: »Es gibt drei verschiedene Ursachen, warum Du bei mir eine bestimmte Bewegung siehst. Zum einen kann sie der kulturellen Tradition Japans geschuldet sein, also das Verbeugen vor und nach einer Übungssequenz. Zum anderen kann es ein Tick von mir sein. Unsere Körper und unsere Erfahrungen und Bewegungsspektrum sind alle verschieden voneinander. Z.B. stütze ich sehr gerne meinen Kopf in die linke Hand. Und der dritte Grund ist die Technik selber. Sie funktioniert nicht, wenn Du Dich nicht so bewegst, wie Du das bei mir siehst. Die Aufgabe besteht für Dich also darin, genau zwischen diesen drei Gründen zu unterscheiden. Drücke Deinen Respekt gegenüber Deinem Partner aus, wie Du willst, japanisch oder deutsch. Die konkrete Bewegung  …



lesen Sie mehr in Edition 109DE

© Copyright 1995-2024, Association Aïkido Journal Aïki-Dojo, Association loi 1901