Auszeit

Kolumne von Markus Hansen

Markus Lieblingsfoto
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Einmal im Monat gehen wir nach dem Aikidō-Unterricht alle gemeinsam Pizza essen. Gemütlich sitzen wir auch diesmal mit lecker belegten Teigfladen und erfrischenden Getränken beieinander. Erstmal sagt allerdings niemand etwas, sondern alle strahlen einfach nur vor sich hin und genießen es, die anderen zu sehen. Endlich. Seit zwei Wochen gab es nun das Kontaktverbot, Abstand halten wurde zum obersten Gebot. Eine ziemliche Umstellung dafür, dass wir uns sonst regelmäßig dreimal die Woche auf der Matte sehr nah miteinander befassen und insgesamt recht herzlich im Umgang miteinander sind. 
Nun ist es also selbstgebackene Pizza und ein Getränk aus dem heimischen Kühlschrank, mit dem wir uns in einer Videokonferenz zusammengefunden haben. Neugierig schauen wir, was man wohl jeweils im Hintergrund so entdecken kann, und versuchen herauszubekommen, von wem wohl das Rasenmäher-Geräusch in die Leitung gespült wird. 
Das mit den Gesprächen ist etwas schwieriger. Am großen Tisch unseres Stammlokals kann man leicht mal in kleineren Gruppen oder auch zu zweit miteinander ins Gespräch kommen. Nun hoffen alle, dass erst mal jemand anderes etwas sagt. Sind alle gesund? Wie geht es Euren Familien? Habt Ihr etwas von den anderen gehört? Nur vierzehn Leute sind in der ersten Runde mit dabei und doch merkt man, dass der Server oder unsere Internet-Anbindungen da etwas herausgefordert sind. 
Die Virtualisierung unserer sozialen Zusammenkünfte außerhalb der Matte ist nicht die einzige einschneidende Veränderung dieser Zeit. Nicht nur das Training, auch Lehrgänge werden abgesagt, Planungen auf Eis gelegt. Die geplante Vorbereitung einer Schülerin auf Shodan fällt erst einmal ins Wasser. Und für die meisten sind diese Freizeit-Einschränkungen noch das geringste Problem. Der Nachwuchs bleibt zu Hause, Schulen und Kindertagesstätten sind geschlossen. Besuche in Kliniken und Pflegeheimen sind untersagt. Wer irgendwie kann, arbeitet im Home Office, aber sehr vielen ist das nicht möglich. 
Schnell wird mehr als offensichtlich, wie kaputt gespart viele Bereiche unserer Infrastruktur inzwischen sind. Privati- sierungen haben über die Jahre nicht nur Kleingeld in manche Taschen und Schubladen verschoben, sondern insbesondere auch dafür gesorgt, dass es nun an Schutzbekleidung für das Pflegepersonal, das die Hauptlast der Pandemie schultert, an allen Ecken fehlt. Man wäre entsetzt und wütend, dass es in unserer ach so modernen Zeit so schief läuft, hätten wir uns nicht längst dran gewöhnt, resigniert und etwas emotionalen Abstand gewonnen. Niemand ist mehr ernsthaft überrascht, wenn Krankenschwestern Tests auf das Virus verweigert werden, die Profi-Sportler mehrfach in der Woche bekommen. Wer von diesen für unsere Gesellschaft wohl eher essentiell ist und wer eher überflüssige Deko, ist dabei eigentlich ziemlich offensichtlich. Der Abstand zwischen Relevanz und Einkommen ist dabei nochmal mehr als ernüchternd. 
Mit etwas Abstand betrachtet müssen wir zugeben, dass auch Aikidō letztlich ein reiner Luxus ist. Wichtig sind diejenigen, die sich um Kranke und Verletzte, um Kinder, Pflegefälle und andere Hilfsbedürftige kümmern oder die die Versorgung mit Nahrungsmitteln und – wer hätte das vor einem Jahr gedacht – Klopapier sicherstellen. Danach wird es schon dünn. Unser Training vermisse ich sehr und auch die anderen im Videochat äußern sich entsprechend, aber niemand stirbt, wenn wir noch ein paar Monate lang Abstand halten, es noch ein paar Monate lang eine Auszeit geben wird. 
Abstand. Abstand ist auch im Aikidō ein elementares Thema. Ma 間 bedeutet sowohl (räumlichen wie zeitlichen) Abstand als auch Beziehung zwischen zwei Dingen. Spalt, Zwischenraum, aber auch Intervall sind weitere Über- setzungen. Ma ist das, was dazwischen ist. Das Kanji zeigt die Sonne 日, die zwischen den Flügeln eines Tores 門 hindurch- scheint. 
Ein kleiner Exkurs für andere interessierte Kanji-Amateure: Frühe chinesische Varianten des Zeichens zeigen an Stelle der Sonne den Mond 月, der es mit seinen etwas längeren Strichen aber in dieser Form nicht nach Japan schaffte. Als koreanisches Hanja (Zeichen chinesischen Ur- sprungs, inzwischen weitgehend durch das koreanische Hangul-Alphabet verdrängt) bedeutet 閒 so viel wie Freizeit oder Entspannung, wofür im Japanischen bei 閑 ein Baum durch das Tor zu sehen ist.
Im Aikidō reden wir meistens von Ma-ai 間合い, wenn wir uns auf die Distanz beziehen. Übersetzt ist dies die »ideal passende Distanz«. Ma-ai bedeutet, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein, in der Technik also räumliche und zeitliche Koordination der eigenen Bewegungen ideal an die Angriffsbewegung anzupassen. Man befindet sich im genau passenden Moment in genau passendem Abstand und genau passender Ausrichtung. Einfach nur perfekt, mehr nicht. 
Ma-ai ist also keine feststehende Distanz, weder absolut (»50 Zentimeter«) noch relativ (»Armlänge«), sondern die der jeweiligen Situationon angemessene. Ein Beherrschen von Ma-ai beschreibt ein intuitives ideales Anpassen der eigenen Position, Haltung, Ausrichtung und Aufmerksamkeit an Uke und die jeweilige Umgebung. Genau angemessen. 
Was unter Epidemie-Bedingungen angemessen ist, da scheiden sich leider mitunter die Geister. Wer nicht nur reinen Abstand zwischen den Ohren hat, achtet tunlichst darauf, Infektionsketten zu unterbrechen, aber die anderen gibt es halt auch. Verschwörungsmythen, von Rechtsradikalen mitunter geschickt benutzt, oder Relativierungen von Erkenntnissen der mediziinischen Forschung durch Quacksalber finden da leichten Zugang. Die nächsten Infektionswellen sind insofern sehr wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit. Auch der Staat zeigt sich überfordert und wird repressiv. Viel zu viele sehen die Einschränkungen nicht ein, fühlen sich ausgeliefert und rebellieren. Unbestreit- bar müssen sich freiheitliche Demo- kratie und Rechtsstaat auch in Krisenzeiten resistent gegen Einschrän- kungen der Grundrechte zeigen. Die Gerichte sind noch zögerlich, räumen aber zumindest langsam mit übergriffigen Maßnah- men auf. Alle hoffen dabei eigentlich, dass es schnell wieder zurück zur »Normalität« geht. Wahrscheinlicher ist, dass das Leben mit derartigen Pandemien das neue »Normal« sein wird. 
Epidemien großen Ausmaßes sind an sich gar nichts Neues. Ein erstes Auftreten der erst Ende des letzten Jahrhunderts für ausgerottet erklärten Pocken wird auf zwölftausend Jahre zurück angenommen. Auf dreitausend Jahre alten Mumien finden sich Läsionen, die sich histologisch den Pocken zuordnen ließen. In ihrer aktiven Zeit haben die Erreger den Erdball mehrfach umrundet und Populationen dezimiert. Auch im Aikidō-Ursprungsland hatte dies verheerende Folgen. Ein früher Vorstoß auf die koreanische Halbinsel im Jahr 735 unserer Zeit brachte die Pocken nach Japan, die sich dort innerhalb der nächsten zwei Jahre rasant verbreiteten und ein Drittel der Bevölkerung töteten. Um die wirtschaftlichen Effekte der Epidemie aufzufangen, gab es letztlich sogar einen landesweiten Steuerverzicht. 
Mangels wissenschaftlicher Erkenntnisse wurden Hososhin 疱瘡神, die Pocken-Geister, für das Ausbrechen der Krankheit verantwortlich gemacht. Sie galten als Onryo 怨霊, Rachegeister, die in die reale Welt eintreten konnte. Man nahm an, dass sie vor der Farbe Rot sowie vor Hunden Angst hätten und versuchte, sie entsprechend abzuschrecken. Andere setzten auf Besänftigung – traditionelle Tänze zur Besänftigung der Pocken-Geister sind beispielsweise immer noch in der Präfektur Ibaraki überliefert, in der Morihei Ueshiba seinen Lebensabend verbrachte. Allen Hunden und Tänzen zum Trotz waren es aber doch erst Impfstoffe, die Japan und auch den Rest der Welt von den Pocken befreiten. 
Während wir nun alle noch (eine Weile) auf einen Impfstoff warten, haben sich unsere virtuellen Pizza-Runden inzwischen etabliert. Auch die Technik hat sich eingependelt und erlaubt stabile Video-Konferenzen. Der Abstand ist zwar räumlich noch vorhanden, aber sozial spürt man Nähe. Nur die zeitlichen Abstände zwischen den Pizza-Abenden sind einigen zu groß. Es wird wirklich Zeit, dass wir wieder auf die Matte können. Nicht zuletzt wegen der ganzen Pizzen.


Markus Hansen lebt und unterrichtet Aikido in Schleswig-Holstein. Unter kolumne@aiki.do freut er sich über Feedback     https://www.aikido-kiel.de/

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