»Das riecht gut hier! Haben wir noch Apfelmus?« Auch eine Begrüßung, immerhin mit strahlendem Gesicht vorgetragen. Der Nachwuchs tobt aus der Schule kommend fröhlich durch den Hausflur, hinunter in den Keller, wo das begehrte Apfelmus gelagert wird. Heute ist Pfannkuchen-Donnerstag. Eier, Mehl, Milch und eine Prise Salz. Die Grundzutaten für Pfannkuchen – für Leute aus Berlin: Eierkuchen – sind doch ausgesprochen übersichtlich.
Alle Pfannkuchenbäckerinnen und -bäcker haben aber meist ihre kleinen Besonderheiten mit im Teig, die dafür sorgen, dass so ein Pfannkuchen immer wieder anders lecker ist. Seien es Haferflocken, Apfelspalten, Quark, Vanillezucker, Rosinen, Schinken, Käse, Röstzwiebeln oder gar Puddingpulver – die Einfachheit des Grundrezeptes bietet eine hohe Flexibilität und lässt der Kreativität freien Lauf. Trotzdem finden sich in den Ergebnissen vorrangig Gemeinsamkeiten.
Es dürfte leicht zu erkennen sein, worauf ich hinaus will, wo ich die Parallele zum Aikidō ziehen möchte. Auch im Aikidō gibt es ja so etwas wie ein Grundrezept. Kihon 基本 bedeutet übersetzt Fundament, Grundlage, Grund oder Basis. Es sind die grundlegenden Elemente, die vermittelt werden, um Aikidō zu lernen, die Bausteine, aus denen dann die Techniken entstehen, die Basis, die verinnerlicht werden muss, um irgendwann in freier Technik agieren zu können. Die Elemente des Kihon sind quasi die Grundzutaten bei den Pfannkuchen, wenn wir den Teig für die Techniken zusammenrühren. Daher ist die Arbeit an soliden Grundlagen auch so wichtig: Sind Eier, Milch oder Mehl von minderer Qualität, wird man das später deutlich herausschmecken.
Nun reicht es für eine leckere Mahlzeit nicht, gute Zutaten parat zu haben. Man kann die Eier noch so lange neben Milch und Mehl stellen – von allein wird kein Pfannkuchen daraus. Man muss wissen, in welchem Verhältnis und in welcher Reihenfolge alles zusammenzufügen ist, damit daraus eben der Teig mit der richtigen Konsistenz entstehen kann. Wie lange lässt man das dann Mehl quellen? Oh und überhaupt, welches Mehl nimmt man denn so? Weizen? Dinkel? Hafer?
Im Aikidō lernen wir am Anfang erst einmal, wie wir uns hinstellen, beginnen dann vorsichtig die ersten Schrittfolgen. Über vieles, was schnell selbstverständlich wird, denken wir zunächst noch sehr bewusst nach. Nach vorn hinein, nach hinten wegdrehen. Alles schön aus der Hüfte hat sie gesagt – was das wohl bedeuten soll?
Genug gerührt und gequollen. Der Teig muss in die Pfanne, darf sich dort in Ruhe ausbreiten und den aromatischen Pfannkuchen-Duft in die ganze Küche verströmen. Bei jedem neuen Anlauf breitet sich der Teig in der Pfanne etwas anders aus, je nachdem, wo und mit wie viel Schwung man an das Ganze herangeht. Jeder Pfannkuchen bekommt so seine ganz eigene Form- und Farbgebung.
Statt wie beim Trockenschwimmen nur unelegant in der Gegend herumzupendeln, werden wir bald die erste Technik probieren dürfen. Mit einer richtigen anderen Person. Wir fassen uns an, drehen uns umeinander, verknoten uns die Arme und so manche Hirnwindung, bis meistens nur eine von uns dann auf die Matte niedergeht. Zumeist steht am Anfang jemand mit mehr Erfahrung daneben und nimmt uns an die Hand, bis es etwas flüssiger läuft.
Das mit den Pfannkuchen habe ich von meiner großen Schwester gelernt. Ich weiß noch, wie sie am Telefon ausgesprochen belustigt klang, als ich, kaum zu Hause ausgezogen, anrief und fragte, wie man denn eigentlich diese Pfannkuchen macht. Mehr oder minder sklavisch hielt ich mich die ersten Male an ihre Anleitung. Zum Glück stand sie nicht daneben, während ich feststellte, wie fix die Dinger anbrennen können, wenn man den Herd auf volle Pulle stellt. Aber aus Fehlern lernt man ja bekanntlich, also alles nochmal von vorn.
Beim Lernen der Aikidō-Techniken geht es nun nicht nur darum, sich die besagten Grund-Elemente anzueignen, sondern insbesondere auch darum, was deren Anwendung in der Interaktion mit den Übungspartnerinnen und -partnern bewirkt. So lernt man beispielsweise schon in der ersten Einheit, dass das mit dem Abklopfen wirklich eine tolle Idee ist, und dass man immer darauf achten muss, ob die Person, auf die man gerade einwirkt und für die man damit Verantwortung übernommen hat, durch ein Abklopfen die vorhandene Kontrolle signalisiert, bevor es unnötiger Schmerz oder gar eine Verletzung wird. Ein angebrannter Uke, sozusagen.
Die ersten Male wird mit Wage und Messbecher penibel darauf geachtet, dass die Zutaten-Mengen nur ja stimmen und im genau richtigen Verhältnis zueinander sind. Genauso üben wir auch die Bewegungen mit unseren Uke erstmal sehr langsam, bewusst, achten darauf, in welchem Winkel wir zu deren Zentrumsausrichtung stehen oder ob unsere relative Position stimmt. Nur nicht pfuschen und zu früh zu schnell sein wollen. Denn es ist unheimlich schwierig, etwas falsch Verinnerlichtes später wieder zu korrigieren.
Hat man eine Bewegung oft genug wiederholt, ist sie irgendwann eingeschliffen. Dann geht sie flüssig von der Hand, läuft automatisiert, nimmt keine kognitiven Ressourcen mehr in Anspruch. Dann kann man sich den nächsten Lernebenen widmen, beispielsweise das Timing verfeinern, die Techniken aus anderen Angriffen erforschen oder Lehrgänge mit ganz anderen Leuten besuchen. Eben so, wie man weitere Zutaten mit in den Teig gibt oder mal eine andere Pfanne, vielleicht sogar einen anderen Herd ausprobiert.
Die Routine macht sich mit der Zeit deutlich bemerkbar. Man entwickelt ein Gefühl dafür, die Zutaten zusammenzukippen, muss nicht mehr auswiegen, weil das geschulte Augenmaß übernimmt. Niemand wird 30 Gramm Mehl mehr oder weniger herausschmecken. Und auch auf der Matte bewegt man sich souveräner, lernt einzuschätzen, wie man sich mit verschiedenen Uke mit unterschiedlichen Formfaktoren und Temperamenten besser zurechtfindet.
So, wie man seinen eigenen Pfannkuchenteig irgendwann einfach aus der Hand zusammenrührt, entwickelt man langsam aber sicher auch das eigene Aikidō mit persönlicher Note. Dann kann man nicht nur weitergeben, was man selbst einst erlernt hat, sondern das Ganze ist mit so manchen persönlichen Erfahrungen abgeschmeckt. Einiges macht man nun auch anders als ganz am Anfang, denn es hat ein Reifungsprozess stattgefunden.
Wenn meine Schwester mir heute noch in die Pfanne reinreden wollte, würde ich mich nicht unbedingt beschweren, denn noch immer kann ich auch von ihrem Erfahrungsschatz lernen. Dass ich aber alles umsetze, was sie mir dann so erzählt, kann ich aber nicht unbedingt sagen. Denn der Maßstab ist da inzwischen der eigene Geschmack. Und der muss nicht unbedingt anderen gefallen.
Es gibt auch Leute, die da anders davor sind. Die sind ganz zufrieden, wenn sie nie selbst überlegen müssen, sondern immer wieder mit Messbecher und Waage das Standardrezept durchkauen. Manche sind auch vollauf zufrieden, wenn sie sich einfach bekochen lassen – und das ist ja auch okay. Ich finde es halt spannender, wenn man die persönliche Handschrift herausschmecken kann.
Eine deutliche persönliche Handschrift war es auch, die mich ursprünglich für Aikidō begeisterte. Nichts prägt einen so wie die erste Lehrerin oder der erste Lehrer, die sich richtig Mühe gegeben haben, damit aus einem eben trotzdem was wird. Egal, warum man danach über die Jahre und Jahrzehnte weitergemacht hat – hätten diese uns nicht auf den ersten Metern begeistert, wäre der Weg nie so lang geworden.
Jedes Mal, wenn ich nochmal die Gelegenheit habe, bei meinem ersten Lehrer zu trainieren, ist es wie wieder nach Hause zu kommen, den vertrauten Duft schon an der Haustür zu erschnuppern und zu merken, wie das Wasser im Munde zusammenläuft.