Liebe LeserInnen,

bedingt durch die Artikel über Japan und dessen Geschichte und Bücher – die sich immer noch  rasant vermehren – sind meine Gedanken zu diesem Editorial auf mir unbewusste Weise in der Europäischen Geschichte und deren Verlauf verankert. Obwohl natürlich das Aikidō selbst genug »Stoff« dazu steuert.

Dass nationaler Separatismus erst im neunzehnten Jahrhundert Fahrt aufnahm und im frühen zwanzigsten seinen blutigen Höhepunkt erreichte, ist zwar anerkannte Lehrbuchweisheit, jedoch einem europäisch verengten Blick geschuldet. Immer steht zwischen 1492 und 1914, als Europas Geburtenraten signifikant fallen, das Personal für Eroberungen zur Verfügung, die definitionsgemäß zum Abtrennen von Gebieten andernorts führen. Von gut 50 auf knapp eine halbe Milliarde verzehnfacht sich Europas Bevölkerung. Verluste bei Kriegen, Ausmorden und Siedeln in Übersee oder durch Seuchen und Krankheiten daheim, werden schnell und mehrfach ausgeglichen. Um Europas Entvölkerung durch die Pestwellen ab 1348 zu entgehen, bleibt nämlich seit dem späten 15. Jahrhundert von der Sexualität straffrei allein der eheliche Fortpflanzungsakt. Erst ab den Jahren 1960 kommt es zu einer Entkriminalisierung der Geburtenkontrolle.

Weil die Erde gegen 1820 weitgehend aufgeteilt ist und das iberische Südamerika schon eigene Wege zu gehen beginnt, wird es eng zwischen der ungebrochenen Bevölkerungsexplosion und neuen Territorien. Mit einem Anstieg von 180 Millionen 1800 auf 490 bis 1915 erreicht Europas Anteil an der Weltbevölkerung 27 Prozent. Der Kriegsindex liegt stets bei 3 bis 4, das heißt, es fallen fast 4-mal mehr junge Männer (15-19 Jahre) im Krieg als ältere (55-59 Jahre).


Alle müssen für das Unterbringen des Nachwuchses expandieren. Russen holen sich in Zentral- und Nordasien 15 Millionen Quadratkilometer Land und werden zu Funktionseliten, während das Zarenreich von 35 auf 92 Millionen Bürger zulegt. Mit 10 auf 46 Millionen wächst Großbritannien in den 115 Jahren noch rasanter und kontrolliert 1918 fast 36 Millionen Quadratkilometer. Zusammen mit der amerikanischen Ex-Kolonie dominieren die Angelsachsen ein Drittel der Erde. Noch einmal 40 Millionen Quadratkilometer gehen seit der zweiten Kolumbusreise – 1493 sind Soldaten, Siedler, Priester, Vieh und Saatgut auf den Schiffen – an Lissabon und Madrid, Paris und Den Haag sowie schließlich auch Brüssel, Rom und auch ans Deutsche Reich, das von 22 auf 67 Millionen steigt. Widerstand gibt es vom Osmanen-Reich, das erst 1918 fällt. Allein Ostasien mit China, Korea und Japan, wo schon im Mittelalter höheren Kulturleistungen gelingen, entkommt der Unterjochung.
Unruhen, die diese Einigkeit daheim gefährden, dämpft man durch Zugewinn neuer Herrschaftsräume, in denen die Hitzköpfe als freie Siedler oder alsbald emanzipierte Sträflinge reüssieren. Die dabei erfolgenden Sezessionen erleiden andere. Tausende von Stammes-Gemeinschaften, Inka- oder Azteken-Kaiser, Khane, Emire und Sultane müssen den Verlust ihrer Gebiete hinnehmen, aus denen man auch freiwillig zu den Europäern überläuft.
Am Ende trifft es mit Polen-Litauen sogar das zweitgrößte Reich des Kontinents. Seine Aufteilung exekutieren die unmittelbaren Nachbarn.
Von der demografischen Wucht her ähnelt das koloniale Europa dem Nachkriegs-Afrika, das zwischen 1950 und heute von 230 Millionen auf 1,25 Milliarden zulegt, bisher allerdings nur 17 Prozent der Erdbevölkerung stellt. Seiner Armut entgeht Europa durch die rasante Paarung hoher Geburtenzahlen mit einer zinsgetriebenen Eigentumswirtschaft. Unbesiegbar wird es, weil Waffen von bankrottbedrohten Unternehmern produziert werden, die immer tödlicheres Gerät auf die Märkte schicken müssen.


Genau dieser Demografische Wandel ist es, der heute dem Aikidō »zusetzt«, so dass wir von einer Krise sprechen müssen. Meine Nachforschungen 2016 und 17 trafen noch auf »taube Ohren«, nun aber scheint die Zeit reif zu sein. Die Reifheit hat eine Sensibilität hervor gebracht, dass nun fallende Zahlen wie selbstverständlich geteilt werden.  
Aber ich hoffe aufrichtig, dass diejenigen, die sich dem Aikidō verschrieben haben, ein tieferes Verständnis haben werden, um ihre Urteile zu fällen, indem sie das Licht der Wahrheit auf ein wichtiges Thema richten. Denn eine höhere Geburtenrate kann dem Aikidō nicht helfen.

Einen angenehmen Sommer, wenn auch die Europäische Politische Landschaft wenig Freude verheißt;
wir wünschen trotzdem viel Freude mit dieser Edition.


    Die Mannschaft und Ihr

Horst Schwickerath

 

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