Big Pictures


Markus Lieblingsfoto …

Kinder hinterfragen Dinge, auf die man selbst nicht unbedingt kommt, weil man sich an so vieles einfach gewöhnt hat. Ich erinnere mich gut an meine erste Kindergruppe, die ich Ende der 1980er übernommen hatte. In einem Training hatte ich ein »büschen« was von Zentrum und Ki als Hilfsvorstellung für den Energie- und Bewegungsfluss erzählt. „Wenn dieses Zentrum also genau hier so ungefähr ist, dann ist da doch Darm, oder? Hat denn da schon mal jemand untersucht, ob das Zentrum innerhalb oder außerhalb des Darms liegt?“ Die innere Vorstellung, dass in diesem Zentrum etwas fließen könnte, war plötzlich viel plastischer geworden.

Meist ist das Hinterfragen aber viel näher an der Technik: „Wenn Uke jetzt aber so macht, was machst Du dann?“ „Und wenn ich das mache, was machst Du dann?“ „Ich kann aber auch so machen, was …?“ – Anfangs macht es zwar Spaß, sich darauf einzulassen, und es entwickelt einen gewissen Coolness-Faktor für die „Kinnings”, wenn der Lehrer echt eine ganze Menge voll krasser Dinger drauf hat. Aber auch wenn es einen Motivationseffekt hat, führt das beim Nachwuchs doch mehr zu Unterhaltung als zu einem Lernfortschritt.

Lernfortschritt … was ist das eigentlich? Am Anfang ist das noch recht einfach zu sagen. Wenn die Leute aufhören, auf ihre Füße zu schauen, wenn sie die Grundschritte nachvollziehen, dann ist das ein Lernfortschritt. Wenn sie in den ersten Techniken aufhören, auf ihre Hände zu schauen, und stattdessen überlegen, in welche Richtung sie ausgerichtet sein müssen, dann ist das schon ein deutlicher Lernfortschritt.

Die typische Frage „was machst Du, wenn ….“ ist aber nicht Kinder-exklusiv und kommt auch bei Erwachsenen auf. So verständlich sie ist, so sehr geht sie an unseren Unterrichtskonzepten vorbei. Denn auch wenn saubere Techniken in der Grundschule unabdingbar sind – es geht nicht um die einzelne Technik.

Schauen wir uns Kote-gaeshi an. Uke kommt auf uns zu, schlägt Shomen-uchi. Wir geben die ursprüngliche Linie des Angriffs frei, treten in das Zentrum der Partnerin ein  und finden uns für einen kurzen Moment in der gleichen Zentrumsausrichtung wie Uke. Eine kleine Drehung in der Hüfte später und Uke hat ihre Hand, über die wir den Kontakt aufgebaut haben, nicht mehr vor ihrem Zentrum, sondern vor unserem. Wir haben ihr damit die strukturelle Integrität ihres Angriffs weggenommen. War das ganze ursprünglich Ukes Situation, nun ist es unsere.

Dadurch, dass wir Ukes Hand vor unserem Zentrum führen, bleibt sie aus dem Gleichgewicht. Wir führen sie so um unser Zentrum herum, verdichten schließlich den Radius, lenken um, öffnen dadurch Ukes Struktur und fokussieren die Bewegungsenergie in den Abwurf. Ukes Bewegung wird dabei nicht blockiert, sondern immer nur neu gelenkt. So bleibt sie im Fluss und kommt schließlich wieder bei Uke an.

Irimi-nage sieht aus der gleichen Situation heraus nicht viel anders aus. Die Position, an der ich mich eindrehe und Ukes Ausrichtung annehme, ist nur etwas weiter hinten. Der Kontakt wird über andere Stellen des Körpers aufgebaut. Aber auch wenn oberflächlich die Technik ganz anders ausschauen mag, weil Ukes relative Position zu mir nun eine andere ist, wir uns anders berühren – die Verwandtschaft der Bewegungen, die wir bei der Technikausführung machen, ist zwischen diesen beiden Technikformen doch recht offensichtlich. 

„Es gibt nur zwei verschiedene Bewegungen im Aikido, und die sind gleich“, verwirre ich meine Schülerinnen und Schüler gern. Diese Bewegungsverwandtschaften finden sich vielfältig, und das hat seinen Grund. Bei den Formen, die wir im Aikido lernen, geht es (wie in den meisten Budo) nicht darum, für jede erdenkliche Situation eine Speziallösung anzutrainieren. Vielmehr soll durch das wiederholte Üben der Techniken ein Verinnerlichungsprozess angestoßen werden, der eben nicht nur äußerliche Bewegungsformen automatisiert, sondern ein allen diesen Bewegungsmustern zugrundeliegendes Prinzip vermittelt.

So ein Kernprinzip, das in allen Formen steckt, nennt sich Riai 理合. Ri 理 bedeutet Vernunft, Logik, Prinzip, Theorie. Ai 合 bedeutet zusammenkommen, perfekt zusammenpassen. Im Iwama-ryu wird mit Riai insbesondere die Kohärenz der unbewaffneten Bewegungsformen mit denen mit Jo und Ken bezeichnet. Aber dahinter steckt mehr. Riai ist der gemeinsame Kern, der in allen unseren Formen steckt. Der die Gesamtheit unserer Formen zu einem System macht. Zu einem Do, dessen prinzipieller Kern sich über die körperliche Interaktion hinaus entfalten kann. Riai ist das „Big Picture“ eines Kampfkunstsystems.

Riai ist auch die große Gemeinsamkeit, die die vielen inhaltlichen Nachfahren von Morihei Ueshiba miteinander verbindet. Es ist das, wonach es sich zu suchen lohnt, wenn man auf Leute aus anderen Linien trifft. Was ist das Gemeinsame, und warum ist es gemeinsam, obwohl wir unterschiedliche äußerliche Formen praktizieren? Ja, mit manchen Linien fällt es einem leichter als mit anderen, diese Gemeinsamkeiten zu finden. Auch wenn ich weiter nach dem Gegenbeispiel suche: Vorhanden sind sie.

Nur – wie vermittelt man so ein Big Picture? Die Angriffsituationen im Aikido, insbesondere der Übungen, mit denen Anfänger sich auseinandersetzen müssen, wirken mehr als gestellt. Street Fighting ist das nicht gerade, wenn da jemand ein Handgelenk greift. Und das, was bei uns später unter Schlagangriffen praktiziert wird, ist jetzt auch kein richtiges Nahkampftraining. Die Bewegungsformen im Aikido sind mindestens die ersten Jahre sehr formal standardisiert. Zwar gibt es unterschiedliche Interpretationen in den einzelnen Linien und bei den einzelnen Lehrerinnen und Lehrern, wie genau bestimmte Techniken auszusehen haben, aber letztlich verfolgen alle den gleichen Ansatz. Das Nachvollziehen und Internalisieren standardisierter Bewegungen ist der Schlüssel dazu, das Riai des Aikido zu realisieren.

Deshalb ist es auch am Anfang des Weges so wichtig, ein solides Fundament zu etablieren und innerhalb der Systematik einer klaren Linie zu verbleiben, um sich diesen Schlüssel zu erarbeiten. Der Schlüssel zum Riai, die Ausgestaltung der Formen, kann sich in den einzelnen Linien unterscheiden. Deshalb ist es auch anfangs nicht egal, welche Formen man eigentlich macht, an welcher Anleitung man sich orientiert. Für den Lernfortschritt ist eine deutliche Richtig/Falsch-Schablone gerade in den ersten zehn Jahren sehr wichtig.

Diese Schablonen für alle Grundformen systematisch zu vermitteln, ist eine große Herausforderung, denn nicht alle Teile davon machen gleichermaßen Spaß. Gern lässt man dann die Stellen weg, die einen selbst nicht faszinieren. Das sind dann allerdings die Bausteine des Schlüssels zum Riai, die den eigenen Schülerinnen und Schülern später fehlen. Aikido wird schließlich nicht durch Warten auf geniale Eingebung, sondern durch fortwährendes, aufmerksames Üben unter kompetenter Anleitung gelernt.

Jede Technik, jede Idee, die man vermittelt bekommt, ist ein Kondensat der jahrzehntelangen Erfahrung der Person, die einen unterrichtet. Und nicht ohne Grund werden mit zunehmender Reife der Unterrichtenden deren Bewegungen immer kleiner, feiner und schnörkelloser. Sie nähern sich immer mehr der puren Essenz – dem Riai – an, bis man kaum noch sehen kann, wie sie sich bewegen. Sehen reicht ohnehin nicht. Um Aikido zu lernen, muss man es üblicherweise fühlen.

„Und was machst Du, wenn ich hier so mit dem Arm mache?“ Geht das schon wieder los. Na gut, sie haben grade sehr konzentriert gearbeitet, etwas Auflockerung ist okay. „Dann kann ich Dich kitzeln, guck, so.“ Es gackert nicht nur der Gekitzelte. „Aber,“ fragt jetzt eine unserer niedlichen, kleinen Klugscheißerinnen mit triumphierenden Gesichtsausdruck, „wenn Aikido immer die Angriffsenergie benutzt, waaaaaas machst Du denn dann, wenn der Angreifer Dich gar nicht angreift?“ – Schachmatt. 

Markus Hansen lebt und unterrichtet Aikido in Schleswig-Holstein
Unter kolumne@aiki.do freut er sich über Feedback.
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