Wie kann man Aikidō heute unterrichten?


Thomas während des Interview mit Watanabe

»Thomas, ab dem nächsten Semester übernimmst Du das Aikidō-Training im Hochschulsport!« Das könnte im Oktober 1977 gewesen sein, als Norbert van Soest mir das in Bielefeld sagte. Ich hatte gerade den 3. Kyu gemacht und war seit gut fünf Jahren dem Aikidō verfallen. Ich hatte keine Ahnung vom Unterrichten und mir auch nie Gedanken darüber gemacht. Norbert war ein Budoka-Profi, als Junge mit Judo begonnen, dann JuJutsu, Karate und eben auch Aikidō, betrieb er die wunderbare Budo-Schule in Bielefeld. Freundlich, direkt, klar, erdverbunden mit großem Können. Ich erinnere mich, dass seine Stunden immer voll waren und wir hatten immer Spaß mit ihm. Und nun sollte ich seine Stunde im Hochschulsport übernehmen.

Also habe ich das gemacht, was ich bei ihm und bei Asai Sensei gesehen und erlebt habe. Und mit 28 Jahren natürlich auch, was ich selber gut fand: Bewegen, bewegen, bewegen. Ausdauer. Und: Werfen ohne Ende. Der Warm-Up Teil war eine Mischung aus den üblichen Bewegungen und leicht Boot-Camp-mäßigen, meistens anstrengenden Übungen. Didaktisches Konzept? Alle mussten danach schwitzen und dann konnte es richtig losgehen. Gott sei Dank ist dabei nach meiner Erinnerung nie etwas passiert. Und wichtig war mir natürlich, dass ich auch auf meine Kosten kam. Das war möglicherweise das vernünftigste, was ich machen konnte: Ukemi nehmen und zeigen, dass der Tori weniger Kondition hatte als ich.

1982 und als 1. Kyu ging ich beruflich an die Hamburger Universität, wohnte aber in Elmshorn und trainierte dort im legendären Judo-Club Elmshorn. Nach meiner Shodan-Prüfung ein Jahr später, bot mir die Aikidō-Gruppe an, an einem Abend den Unterricht zu übernehmen. Nach einem halben Jahr sagten sie mir, ich solle keinen Unterricht mehr geben. Es hätten sich zu viele beschwert darüber, dass mein Training zu hart sei. Naja, dachte ich, die wissen nicht, was gut ist. Kurz drauf hatte ich mir beim Üben mir einen Minuskusanriß zugezogen. Das erste Stoppsignal, das ich da bekam. Irgendetwas stimmte nicht.
1986 eröffneten wir ein neues Aikidō-Dojo in meiner Heimatstadt in Bonn, den Aikidō Aikikai Bonn e.V., in dem ich in den nächsten Jahren sehr viel unterrichtet habe. Ich denke, ich habe keinen schlechten Unterricht gegeben, obwohl von einem didaktischen Konzept immer noch nichts zu sehen war. Obwohl mir Dynamik, Schärfe und auch Härte weiterhin wichtig waren. Aikidōka, die bei mir übten, wurden auf Lehrgängen darauf angesprochen, bei wem sie das gelernt haben oder es wurde ihnen direkt auf den Kopf zugesagt, »sie kämen von mir«. Es muss also auch etwas dabei gewesen sein, was Andere wieder erkennen konnten. Und der Verein florierte. Er gehörte innerhalb weniger Jahren mit weit über hundert Mitgliedern zu den großen Aikidō-Vereinen in Nordrhein-Westfalen zu der Zeit. Dann kam die nächste Verletzung. Und ich lernte Watanabe Sensei kennen.
Jahrelang knurrte er mir dann beim Training im Vorbeigehen oft zu: »Rambo«. Was ich nicht verstand, denn ich gab mir so viel Mühe, endlich »weich« zu werden. Aber irgendwie wollte das nicht klappen. Aber ich fing an, Elemente aus seinem Unterricht zu übernehmen. Sein Spruch lautete: »Ihr sollt gesünder von den Tatami gehen, als ihr drauf gegangen seid!« Also, mehr Dehn- und Atemübungen und weniger Liegestütze und Kniebeugen. Mehr Übungen, bei denen ein Ziel erkennbar war, z.B. mehr in die Aufrichtung zu gehen, einen stabilen Körper zu haben. Ich begann zu begreifen, dass diese Übungen nicht einfach zum Aufwärmen dienen, sondern schon Teil des Aikidō sind. Und dann erkannte ich, dass die typischen Aikidō-Techniken nur die Mittel sind, um die zugrunde liegenden Konzepte und Prinzipien zu unterrichten.

Seitdem geht es mir nicht mehr darum, anderen Ikkyo-Omote, um ein Beispiel zu nennen, beizubringen. Sondern es als eine Möglichkeit zu sehen, um etwas über Balance zu lernen, mühelosen Umgang mit einem Angriff, der frontal auf einen zukommt. Reingehen, also Irimi. Atmen angesichts eines Angriffs, während der Bewegung. Wenn jemand diese Prinzipien beim Üben von Ikkyo-Omote verinnerlicht hat, dann fällt es ihm unendlich viel leichter, diese auch bei Irimi-Nage zu befolgen. Diese Prinzipien sind die Konstanten in den Techniken. Und eher durch Zufall fand ich eine Verbindung zu der Forschung an mobilen Robotern, mit der ich mich damals beschäftigte.
Zur Bewegungssteuerung der Roboter nutzten wir künstliche neuronale Netze und maschinelle Lernverfahren, um die Netze nicht von Hand im Detail programmieren zu müssen. Dabei stellte sich heraus, dass beim Lernen aus Beispielen die Auswahl der Lernbeispiele entscheidend ist für den Lernerfolg und vor allem die Robustheit des neuronalen Netzes. Robustheit bedeutet hier, dass dasselbe Netz auch in Situationen noch gut funktioniert, die sich deutlich von den Lernbeispielen unterscheiden. Also, ich lerne bei mir am Venusberg Wandern und schaffe das dann auch in einer Alpenüberquerung. Der Venusberg ist nur 196 Meter hoch. Die spannende Frage für uns Robotiker lautete: Wie finde ich die guten Lernbeispiele für eine Ameisen-ähnliche sechsbeinige Laufmaschine? Es stellte sich heraus, dass man zuerst die entscheidenden Parameter finden muss, die ein koordiniertes Laufen eines sechsbeinigen Systems bestimmen. Und dann muss man an diesen Parametern ein wenig wackeln, soll heißen: Die Werte dieser Parameter müssen variiert werden. Mit anderen Worten: Immer nur exakt dieselbe Bewegung üben führt nie zu einem robusten neuronalen Kontrollsystem für diese Bewegung. Kleinste Änderungen können dafür sorgen, dass die Bewegung nicht mehr stimmt, weil die Steuerung falsche Befehle gibt.

Zurück zum Aikidō. Mir sind die Bewegungen so vermittelt worden, dass ich möglichst exakt die Bewegung meines Lehrers imitieren sollte. Dann funktioniert es auch. Denn bei dem Lehrer funktioniert es ja. Wie wir alle wissen, stimmt das nicht unbedingt. Viele Kritiker des Aikidō führen an, dass der Angreifer sich freiwillig werfen lasse, nicht wirklich angreife, der Lehrer, der Höhergraduierte immer Recht bekomme. Wichtiger noch, jeder Körper ist anders. Schlimmer, der Körper jedes Menschen ist immer anders. Mit Anfang 23 war mein Körper anders als heute oder mit 42. Es kann also gar nicht stimmen, dass es eine richtige Bewegung gibt und ich müsse sie nur gut genug von meinem Lehrer nachmachen, dann funktioniert es schon. Traditionell gab es zu dieser Vorgabe aber auch Folgendes: Wir sollten immer mit möglichst vielen verschiedenen Partnern üben. Das würde uns helfen, den richtigen Bewegungsablauf zu lernen.
Einerseits genau nachmachen, möglichst ohne zu hinterfragen, warum mein Vorbild, der Lehrer, sich so und nicht anders bewegt. Also die Forderung, eine Technik auf genau eine bestimmte Art und Weise zu verinnerlichen. Andererseits mit möglichst verschiedenen Partnern üben. Die Herausforderung besteht hier darin, die imitierte Bewegung anzupassen. Scheinbar an den jeweils anderen Partner, eigentlich an die unterschiedliche Kommunikation zwischen meinem Partner und mir. Flexible, vielfältige Anpassungen werden hier gefordert. Wie passt das zusammen? Wann genau stellt sich heraus, worin die individuelle situative Anpassung besteht? Welche Aikidō-Technik ergibt sich natürlich daraus?

Der Schlüssel dazu besteht für mich im ersten Kontakt. In meinen letzten Beiträgen in dieser Kolumne habe ich einiges dazu geschrieben. Wenn ich mich richtig erinnere, schrieb ich, dass dieser erste Kontakt sanft sein muss, ohne den Uke bestimmen zu wollen, ohne selber eine definierte Absicht zu verfolgen. Ich habe aber vergessen zu schreiben, warum das eine gute Idee ist. Das will ich jetzt


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