RUHE

Markus Hansen
Markus Hansen

Bei uns im Dojo gilt die Gummibärchen-Regel. Nur die Person, die das Training leitet, darf in die Hände klatschen, denn das Klatschen hat Signalcharakter. Wenn alle das Training unterbrechen, weil sich jemand so doll gefreut hat, dass eine Bewegung endlich mal hinhaut, ist das halt störend, auch wenn man sich mit freut. Wer versehentlich doch mal klatscht, muss im nächsten Training für alle Gummibärchen mitbringen. Wir hatten das mal bei den Lütten eingeführt, bis dann die Großen irgendwann meinten, dass sie ja auch Gummibärchen mögen.
Dieses Klatschen jetzt ist aber keine Unterbrechung, sondern ein Startsignal: Ein Schüler soll vor der Gruppe ein Randori üben. Seine Partnerin geht unverzüglich in den ersten Angriff über, wird sauber in einen Irimi-nage geleitet. Sie steht wieder auf, greift wieder an, landet wieder im Irimi-nage. Beim dritten Irimi-nage wird deutlich, dass da jemand sehr unzufrieden mit sich selbst ist, weil er immer wieder in der gleichen Technik landet. Die Aufnahme-Bewegungen werden hakelig, der Bewegungsfluss ruckelig. Er denkt. Eigentlich beherrscht er doch ein breites Spektrum an Techniken? Wieso landet er immer wieder im Irimi-nage? Ah! Shiho-nage geht auch! Oh, schon wieder Shiho-nage. Und nochmal. Mist.
In einem Comic wären längst dunkle Gewitter-Wolken über seinem Kopf eingezeichnet. So gern würde er jetzt seine ganze Bandbreite, sein ganzes Repertoire präsentieren. Und das möglichst perfekt.
Dieser Effekt ist so kein Einzelfall. Viele meiner Schülerinnen und Schüler verheddern sich anfangs in ihren Bewegungen, wenn sie bemerken, dass ich hinschaue, und von mir selbst kenne ich das auch. Man ist gewöhnt, dass man gemessen und beurteilt wird; außerdem möchte man bei Menschen, die einem wichtig sind, eben einen guten Eindruck hinterlassen. Mein Lehrer hatte dann immer ein büschen in sich hineingelächelt. Inzwischen kenne ich meine Pappenheimer und achte darauf, ihr Üben nicht nur zu betrachten, wenn ich direkt daneben stehe, sondern auch von der anderen Seite des Raumes, wenn sie es nicht sofort bemerken. In den dunklen Jahreszeiten sind die Spiegelungen in den Fensterscheiben auch ganz hilfreich.
Zu diesem Effekt kommt es, weil man in dem Moment gern ein Wunschbild von sich selbst abliefern möchte, statt einfach nur man selbst zu sein. Statt einfach die gleiche Bewegung wie sonst auch zu machen, möchte man ein besonders perfektes Ergebnis abliefern. Plötzlich stimmt dann das Timing nicht mehr, man macht seine Bewegung so schnell, dass Uke sie nicht mehr umsetzen kann. Nanu, was ist denn mit Uke los? Wieso ist der genau jetzt so störrisch? Zum Glück konnte man ihn mit einer schnellen Bewegung der Hände noch dorthin zerren, wo er doch hingehört. Komischer Uke. Vielleicht hat er eine Verletzung? Wieso sagt der das nicht vorher, statt mich nun so blöd aussehen zu lassen? Uke schaut in solchen Situationen dann eher hilflos-verwirrt und wundert sich, warum die Techniken plötzlich so eigenartig ausgeführt werden.
Das Wissen, beobachtet zu werden, noch dazu von Personen, die wir als Autoritäten betrachten, lässt schnell mal das Herz in die Hose und das Zentrum in die Schultern rutschen. So kann das gar nichts werden. Wo eben noch gelassen und entspannt geführt wurde, wird schwuppdiwupp angespannt, kraftvoll zugepackt und gerissen. Auch bei Leuten, die - bewusst oder unbewusst - meinen, sich in ihrer Rolle besonders produzieren zu müssen, wenn sie unterrichten, lässt sich das beobachten. Zum Teil geben sie diese Anspannung dann sogar weiter. Im Ernstfall ist ja auch keine Zeit für Entspannung.
Auf den Schlachtfeldern der alten Kampfkünste ging es aber nicht darum, ob Lehrer oder Schüler das toll fanden, was man da macht. Es ging ums Überleben. In den Kata der Koryu finden sich entsprechend auch Formen, die als Szenario den eigenen Tod als möglichen Ausgang einer Kampfhandlung einschließen, beispielsweise, indem man sich aus einer ansonsten unauflösbar nachteiligen Situation in die Klinge des Feindes stürzt, um so dessen Deckung zu überwinden und ihn doch noch zu erlegen. Der Tod stellt dann nicht mehr Anlass für Verzweiflung dar, sondern eine vertraute und ehrenvolle Option. Egal wie es ausgeht, es ist kein Versagen. Es ist nichts, wovor man sich fürchten muss.
Wenn es nichts zu fürchten gibt, gibt es auch keinen Anlass für innere Unruhe. Innere Ruhe - das wird den Kampfkünsten oft als Feature nachgesagt. Ein Aspekt dieser inneren Ruhe ist Mushin 無心. Mushin heißt soviel wie »leerer Geist« und beschreibt, da Shin 心 (andere Aussprache: Kokoro こゝろ) nicht zwischen Intellekt und Emotionalität aufspaltet, eine Freiheit von Gedanken und Gefühlen. Kein Überlegen und Konzipieren, was als nächstes kommt, kein Ärger, was war, keine Furcht, kein Wollen, einfach nur sein, einfach nur machen - es ist unerheblich was passiert oder nicht. Innere Ruhe.
In den Formen, die wir im Aikido üben, liegt ein Grundstein für diese innere Ruhe. Wir wissen, welcher Angriff als nächstes kommt, welche Bewegung wir machen sollen. Und wenn unser Uke kein Oberdödel ist, der uns unbedingt ausblockieren muss (wenn man weiß, welche Bewegung geübt werden soll, ist das keine große Kunst), kommen wir auch irgendwie halbwegs durch die Form. Irgendwann beherrschen wir den Ablauf, dann können neue Herausforderungen mit hineinkommen, bis wir die Form umfänglich erkundet haben, uns darin zuhause fühlen, uns auch im Dunkeln darin zurechtfinden.
Wenn die Bewegungen so vertraut sind, dass man die Formen ohne Überlegen ausführt und auch bei hoher Dynamik nicht aufgeregter wird, ist man dieser inneren Ruhe schon ein gutes Stück näher. Die Vorgaben der Formen sind eine Struktur, die Sicherheit gibt. Wächst man über die ersten dieser kleinen Strukturen hinaus, trifft man auf neue, größere. Oft findet man darin vertraute Aspekte wieder, die aber mit neuen Einflüssen verknüpft sind. So erschließt man sich nach und nach das Gesamtkonstrukt Aikido, lernt Stück für Stück jeden Winkel davon kennen und macht sich damit vertraut.
Manchmal wird die Liebe zum Aikido so groß, dass Leute beim Lernen vorauspreschen. Was kann ich noch machen? Was kann ich noch üben? Ich
habe mir schon mal was selbst überlegt, guck mal! – Es kann ganz schön anstrengend sein, gegen die Fehler, die sich hier womöglich einschleichen und festsetzen können, gegen an zu unterrichten. Auch Geduld ist ein Aspekt von innerer Ruhe, und nicht ohne Grund haben die meisten Aikido-Richtungen eine Didaktik, die Dinge aufeinander aufbaut, und eine Lehrerin oder einen Lehrer, die einem den nötigen neuen Input geben, wenn man soweit ist.
Das heißt nicht, dass man nicht schon frühzeitig versuchen sollte, die Struktur der eigenen Aikido-Richtung zu erkennen und zu verstehen. Zu wissen, was wann kommt, ist ein Rahmen, der das mit der Gelassenheit und inneren Ruhe nicht nur beim Lernen einer Form deutlich erleichtert. Wer ernsthaft ein komplexes Gefüge wie Aikido erlernt, will auch einordnen können, was da vermittelt wird. »Das musst Du noch nicht wissen, das betrifft Dich ja eh noch nicht«, ist ein ganz falscher Ansatz, denn er kommuniziert denjenigen, die Interesse zeigen, die lernen und verstehen wollen, Arroganz und Geringschätzigkeit, statt ihnen geduldig aufzuzeigen, wo es hingehen kann, wenn man geduldig weiter übt.
Im Randori ist es auch irgendwie weitergegangen, man hat ja Geduld. Nach diversen Wiederholungen von Irimi-nage, Shiho-nage und Der-muss-doch-auch-irgendwie-gehen-nage ist unser Aspirant endlich erschöpft genug, um loszulassen. Er hat aufgegeben, sich präsentieren zu wollen, wartet nur noch darauf, dass ich klatsche und es vorbei ist. Er plant nicht mehr, er macht einfach nur noch. Seine Bewegungen werden weicher, fließender, natürlicher. Jetzt sieht es ganz gut aus, was er da macht.
AJ

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