Was die Gehirnforschung über die Schönheit der Kampfkunst Aikido erklären kann.

Aikidojournal Interview

Der hier vorliegende Beitrag für die Kolumne basiert auf einen Vortrag, den ich während des Aikido-Seminars mit Matti Jonsuu in Balatonalmádi am 29.Juli 2014 gehalten habe. Vielen Dank an Matti Joensuu und Sándor Karászi für die Einladung dazu!




Muhamed Ali benötigte nur 0,06 Sekunden (entspricht 60 Millisekunden), um seine Faust 40 cm nach vorne zu bewegen. Er war so schnell, dass er seine Gegner zweimal schnell hintereinander treffen konnte, bevor diese eine Reaktion zeigten. Vergleiche dies mit der durchschnittlichen Reiz-Reaktionszeit untrainierter Menschen, die bei ca. 250 Millisekunden liegt. Dies ist die Zeit, die ein visueller Reiz auf seinem Weg durch das Gehirn benötigt, um mit einem Finger einen Knopf zu drücken. Die Neurone im Gehirn haben alle mehr oder weniger dieselbe Verarbeitungsgeschwindigkeit. Das trifft auch für Muhamed Ali zu. Warum konnte er aber so viel schneller sein?


Natürlich spielt Erfahrung und Praxis eine große Rolle, d.h. Training. In Kampfsituationen - auch in Wettkämpfen - sind aber die Aktionen des Anderen vielfältig und deshalb schwierig vorher zu sagen (zu antizipieren). Nicht nur im Boxen sondern auch z.B. beim Tischtennis ist die Reaktionszeit der Profis schneller als „erlaubt“. Die Bälle kommen mit mehr als 100km/h über die Platte gesaust. Wenn ein Spieler so lange wartet, bis das Auge erkennt, wie der Ball kommt, ist es einfach zu spät, um sich an die richtige Stelle zu bewegen, den eigenen Schläger angemessen zu halten und zu retournieren. Offensichtlich muss es andere visuelle Reize geben, die offenbaren, wie der Andere sich bewegen wird und was das für die Flugbahn des Balles bedeutet. Und diese Reize müssen schon sehr früh erkennbar sein. Im Folgenden will ich dies ein wenig genauer erklären, wie das ganz allgemein bei Lebewesen mit einem Gehirn funktioniert und insbesondere beim Menschen. Danach ziehe ich einige vorläufige Konsequenzen für das Aikido-Training. Am Anfang wird es ein wenig wissenschaftlich, aber dann spannend und möglicherweise auch überraschend.

Fangen wir mit dem Standardmodell an, mit dem die Reaktionsfähigkeit und -geschwindigkeit erklärt wird. Unser Auge empfängt Lichtwellen, die auf der Retina sofort in neuronale Impulse umgesetzt werden. Diese wandern auf zwei verschiedenen Wegen ins Gehirn. Der Hauptweg geht in den visuellen Kortex, der sich in unserem Hinterkopf befindet. Dort werden im Wesentlichen die Orientierungen der Linien im Bild erkannt, daraus Flächen berechnet, Schatten und Objekt voneinander unterschieden und erkannt, welche Teile im Bild bzw. dem neuronalen Muster, welches durch das Bild erzeugt wurde, zu einem Objekt gehören. Dieser Hauptweg besteht aus jeweils ungefähr einer Millionen Neuronen. Ein deutlich kleinerer Anteil an Neuronen geht aber direkt ins Innere des Gehirns in eine Struktur, die Amygdala, Mandelkern, genannt wird. Diese erbsengroße Struktur entscheidet, ob wir prinzipiell uns in einen Flucht- oder in einen Kampfmodus versetzen. Sie löst, kurz gesagt, Angst oder Mut aus. Diese Emotionen werden dann in das Vorderhirn, den sogenannten präfrontalen Kortex geschickt, in den auch die Signale aus dem visuellen Kortex gelangen. Aus den faktischen Informationen, soweit sie erkannt wurden, und dem emotionalen Eindruck triggert unser Verstand dann einen Plan für eine angemessene Handlung. Dazu wird dann ein Handlungsplan im motorischen Kortex, der sich (von vorne gesehen) hinter dem Verstand befindet, ausgewählt. Der erzeugt wiederum neuronale Signale, die ins Kleinhirn und dann in das Rückenmark geschickt werden. Von dort gelangen sie in die Muskeln. Das ist eine sehr abgekürzte Darstellung, da z.B. im Kleinhirn auch sensorische Informationen hinzu genommen werden, die unter anderem unsere Orientierung im Raum, Fortbewegungsgeschwindigkeit, Muskelspannung und vieles mehr aus unserem eigenen Körper hinzufügt, um so eine angemessene Bewegungsabfolge zu erzeugen. Die Verarbeitungsgeschwindigkeit bestimmt sich also in erster Linie durch die Fortbewegungsgeschwindigkeit neuronaler Signale von der Retina über verschiedene Areale im Gehirn bis in die Muskulatur. Dies dauert in den üblichen Reiz-Reaktionsexperimenten die oben genannten 250 Millisekunden. Männer sind im Durchschnitt schneller als Frauen, Junge schneller als Ältere. Die Spitzenleistung erreichen wir Menschen Mitte unserer zwanziger Jahre. Danach lässt sie dramatisch nach und mit sechzig sind wir genauso gut wie ein Kindergartenkind.

Soweit das Standardmodell. Damit kann man aber nicht die Reaktionszeiten von Profisportlern oder gut trainierten Amateuren erklären. Deshalb wird Erfahrungswissen hinzugenommen. Durch entsprechendes Training und Erfahrungen in (Wett-)Kämpfen werden die neuronalen Verbindungen optimiert. Ein Baby zeigt „ungeordnete“ Bewegungen, die dadurch zustande kommen, dass einfach die Verbindungsdichte zwischen den Neuronen so hoch ist wie nie wieder im Leben eines Menschen. Es gibt zu viele Köche, die dann den Brei verderben. Das trifft in gewisser Weise auch für erwachsene  Laien, Anfänger oder Amateure zu. Sie benötigen einfach zu viele beteiligte Neuronen. Dadurch wird die Reaktionszeit verlangsamt und vor allem bei komplexeren Bewegungen werden diese nicht effizient, geschmeidig, anstrengungslos erzeugt. Ein gut trainierter Fußballer benötigt deshalb deutlich weniger Neurone, um sich erfolgreich zu bewegen, als ein Feiertagskicker. Je weniger Neuronen desto klarer und damit auch schneller die Signalverarbeitung.



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