Bleib misstrauisch gegenüber Erfolg Edition 80DE


Thomas während unseres Gespräches.

Freue Dich, wenn Du etwas nicht mehr kannst.

Für Schriftsteller und Kolumnenschreiber gibt es eine Goldene Regel: Kill Your Darlings! Streiche all jene Sätze, die Du für besonders gelungen, witzig, intelligent hältst. Die Erfahrung zeigt, nur Du findest solche Sätze oder Formulierungen gut, schön, etc. Häufig genug tragen sie aber nicht dazu bei, dass der Leser etwas versteht. Auf das Aikido übertragen lässt sich diese Regel so formulieren:

Immer dann, wenn Dir eine Bewegung oder ein Bewegungsaspekt an Dir besonders gut gefällt, dann sei misstrauisch. Versuche diese „wunderbare“ Bewegung zu zerbrechen.

Warum?

Solche Bewegungen finde meistens nur ich selber gut. Sie sind oft unnötig, passen nicht wirklich zur aktuellen Situation, hindern mich am Erlernen besserer Bewegungen und an einem tieferen Verständnis davon.

Das menschliche Gehirn lernt beständig. Es muss aber immer von dem ausgehen, was es bis zu einem Zeitpunkt schon gelernt hat. Das ist nicht notwendigerweise der beste Ausgangspunkt für etwas, was man gerne lernen möchte. Deshalb erreicht das Gehirn in aller Regel nur ein lokales Optimum: Optimal bezogen auf die Ausgangssituation. Wenn es eine andere, möglicherweise nur leicht geänderte, gegeben hätte, könnte das Lernergebnis besser sein.

Lernen insgesamt erfolgt deshalb in Stufen. Bei Kindern ist das gut zu beobachten. Immer dann, wenn eine neue Entwicklungsstufe erklommen wird, geht die Leistung runter. Ein Kind, was sich sehr gut bewegen konnte, eckt auf einmal überall an. Erst, wenn die Entwicklung fortschreitet, gewinnt das Kind wieder Sicherheit und die Bewegung wird dann auch besser als zuvor. Bei Kindern ist natürlich durch das Wachstum die körperliche Veränderung groß, aber es sind auch kognitive Veränderungen, Erfahrungen, die einmal Erlerntes infrage stellen können. Wollte man Lernen in einer Kurve grafisch veranschaulichen, dann ergibt dies eine aufsteigende Sägezahnkurve. Zuerst gibt es einen Anstieg. Dann bricht aber die sichtbare Leistung steil ein, dann steigt es wieder an und geht ein Stück höher als der höchste Punkt (das damalige lokale Optimum) beim ersten Sägezahn. Dann bricht es wieder etwas ein und so weiter. Um in dem Bild zu bleiben, gibt es auch stumpfe Sägezähne oder Plateaus, auf denen das Können gleich bleibt und sich scheinbar nichts tut. Es wird weder besser noch schlechter.

Deshalb macht es Sinn, Gewohnheiten und gewohnte Bewegungen immer ein Stück weit zu verändern oder zu verlernen, um sie wirklich zu verbessern. Das ist mit „Zerbrich die Bewegungen, die Du besonders schön an Dir findest“ gemeint. Das Gehirn entwickelt gerade beim Bewegungslernen einen Baukasten an Versatzstücken einzelner Bewegungsaspekte. Wenn also ein größerer Bewegungsablauf zerbrochen wird, dann eben in solche Teilaspekte. Das Gehirn setzt sie anschließend neu und oft besser zusammen. Die Bewegung insgesamt wird besser. Das nächste lokale Optimum kann nun erreicht werden.

Aber warum gerade die besonders „schönen“? Weil das Ego sich darin gefällt, diese als besonders schön empfundene Bewegung durchzuführen. Aber diese ist nicht wirklich diejenige, die die beste Bewegung für uns ist. Wenn aber das Ego diese Bewegung so liebt, dann wird es verhindern, dass wir besser werden. Die Bewegung erstarrt zum Ritual. Da unser Körper sich in jedem Fall im Laufe der Zeit verändert, verliert die zu einem bestimmten Zeitpunkt „schöne“ Bewegung jede Qualität und wird zur Marotte, zur schlechten Angewohnheit.

Deshalb: Sei froh, wenn Du merkst, dass Du etwas nicht mehr so gut kannst, wie Du es gewohnt warst! Dein Körper und Dein Gehirn sind dabei, eine noch bessere und passendere Bewegung zu entwickeln und Du wirst bald den Fortschritt spüren. 


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