"Die Aikido-Pubertät"

"Markus auf seinem Liebligsbild"
"Markus auf seinem Liebligsbild"

思春期


Etwas unsicher betritt die junge Frau die Matte. Es ist ihr erstes Aikido-Training. Unwillkürlich denke ich zurück an meine ersten Schritte auf der Matte. „Aikido lernen ist wie Laufen lernen“, hatte der etwas rundliche Sempai lächelnd gesagt, der mir damals die Fallschule nahezubringen versuchte. Am Anfang sieht man alle flink und elegant über die Matte huschen und denkt, oha, das lerne ich doch nie im Leben. Die eigenen Bewegungen kommen einem unbeholfen vor, eher wie das Robben eines Kleinkindes. Ist man nach ein paar Wochen endlich beim Gefühl des Krabbelns angekommen, erscheint das schon als großer Erfolg.

„Aikido lernen ist wie Laufen lernen,“ bringe ich die gleiche Bildsprache an, erläutere es noch ein wenig. Die junge Aikidoka findet den Vergleich spannend. Ob es noch andere Parallelen zwischen der allgemeinen menschlichen Entwicklung und der im Aikido gibt, möchte sie wissen. „Jo,“ bestätige ich, verschiebe die Konversation aber auf nach dem Training, damit wir mit der Rolle, an der wir grade arbeiten, vorankommen. Die Bewegungsmuster der schrecklichen Turnrollen, die einem in der Schule eingetrichtert werden, müssen schließlich dezent entsorgt und durch sinnvolle motorische Abläufe ersetzt werden …





Eine ausgesprochen spannende Entwicklungsphase von Aikidoka ist die Aikido-Pubertät. Genauso, wie ein Kind die Entwicklung zum Erwachsenen nun mal nicht schwupps mit einem Fingerschnippen erledigt, gibt es auch im Aikido eine Phase, die mit bestenfalls drolligem Verhalten einhergeht. Sie beginnt mit bummelig 2. Kyu und liegt in der Regel hinter einem, wenn auch der 2. Dan hinter einem liegt – bei manchen früher, bei manchen später. 

Der Beginn dieser pubertären Phase zeigt sich beispielsweise darin, dass Lücken in den Techniken des Lehrers gesucht werden. Das ist eigentlich ein gutes Zeichen, denn die Erkenntnis, dass kein Lehrer unfehlbar ist, ist elementar. So wie Jugendliche ein neues Selbstbewusstsein entwickeln und versuchen, sich von den Eltern innerlich abzunabeln und eigene Werte zu definieren, die sich von den bisher vorgelebten erst mal ordentlich unterscheiden, versuchen Aikidoka dann gern, Lücken in den Techniken des Lehrers aufzuzeigen.

Dabei fehlt leider häufig das Gespür für Angemessenheit. Jeder gute Aikido-Lehrer freut sich, wenn seine Ausführungen hinterfragt werden. Das dadurch bedingte Dekonstruieren der Unterrichtsinhalte führt nämlich oft dazu, dass sie hinterher ein viel detaillierteres inneres Bild der Bewegungen haben. Wenn jedoch ein Schüler, der als Uke zum Vorführen ausgewählt wird, genau dann versucht, die Ausführungen zu stören, ist das ebenso destruktiv und ein Zeichen von Unreife wie das absichtliche Abweichen vom Bewegungsvorbild im Training in der Hoffnung, der Lehrer oder die Mitschüler mögen doch endlich bemerken, wie toll man ist. Fallen biologische und Aikido-Pubertät auch noch zusammen, kann dies verstärkend wirken, wie ich aus biographischen Gründen bestätigen kann.

Diese rebellierenden Schüler wollen dabei eigentlich Anerkennung für sich. Lehrer wie Mitschüler sollen nicht nur bemerken, dass etwas anders gemacht wird, sondern wie toll man ist. Die Reaktion des Lehrers ist dabei nicht immer von Anerkennung getragen. Bestenfalls wird das Verhalten verständnisvoll ignoriert. Nimmt es überhand, bekommt man auch schon mal vor der ganzen Gruppe einen kleinen Hinweis. Das ist dann nicht nur für die gesuchte Anerkennung der eigenen Technik ein Dämpfer, darüber hinaus wird es als soziale Zurückstufung wahrgenommen. Denn eigentlich ist man ja schon wer, schon ein Fortgeschrittener, einer, zu dem andere in der Gruppe aufschauen. Man sieht die Anerkennung, die Achtung, den Respekt, der dem Lehrer von den anderen entgegengebracht wird, und aus dem Wunsch, desgleichen zu erfahren, wird womöglich eine Anspruchshaltung. Dann kann es passieren, dass man eine Korrektur seitens des Lehrers nicht mehr als Hilfe, sondern als Bloßstellung wahrnimmt. Wird in der Folge – zumeist unbewusst – versucht, Korrekturen aus dem Weg zu gehen oder sie zumindest nicht anzunehmen, bleiben Lern- und Entwicklungsfortschritte jedoch auf der Strecke.

Wenn dann irgendwann auffällt, dass die eigene Entwicklung im Aikido stagniert, so wird der Fehler gern beim Lehrer gesucht und gefunden. Statt sich diesem wieder offen zuzuwenden, gibt es aber auch andere Ausweichstrategien. Gern werden dann viele Lehrgänge bei renommierten Lehrern besucht, um darüber vielleicht die zustehende Anerkennung einheimsen zu können. Nur sagen Häufigkeit und Vielfältigkeit von Lehrgangsbesuchen …


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