Horst Schwickerath

Auf der einen Seite bin ich ein Immigrant, ein Fremder, auf der anderen stehe ich als Auswanderer dar. Eingewandert bin ich in eine Nachbar-Gesellschaft, die nun mein neues Zuhause darstellt - seit über 16 Jahren sogar mit deren Passdokumenten (ein Deutscher »durfte« ich laut Gesetz von 1913 oder war es 1917? nun nicht mehr sein). Jetzt bin ich ein Fremder auf beiden Seiten. So erhalte ich in Deutschland oft Komplimente, wie gut ich doch die deutsche Sprache spräche. In Frankreich, meinem neuen Zuhause, habe ich zwar die Sprache und die Verhaltenweisen der neuen Kultur erlernt, aber niemals werde ich die Geschichte der fremden Kultur als integralen Bestandteil meiner Biografie sehen.

Was den Einheimischen selbstverständliche Gewissheit ist, ist bei mir eine hart errungene Einsicht. Einen Vorzug freilich habe ich gegenüber den Heimischen - gefühlsmäßig erfahre, ja erspüre und entwickele ich ein immer stärkeres Empfinden für die inneren Brüche, die diese »fremde« Gesellschaft durchzieht. Lange bevor sich der »Einheimische« durch die Symptome sozialer Veränderungsprozesse irritiert fühle, spüre ich, der Fremde, das Knistern des sozialen Wandels und registriere »mit sichtbar hemmungsloser, manches Mal auch schmerzlicher Klarheit« das Heraufnahen einer Krise, die diese Gültigkeit des Gewohnten bedroht. Anders aber als der »Einheimische« reagiere ich auf „diese“, potentielle Störungen, denn dieses Aufnahmebecken ist ja geprägt durch meine Vergangenheit.>/p>

Warum aber ist es so schwierig, in dem neuen, dem gewählten Idyll Fuß zu fassen? Wie kommt es zu dieser »Unterschiedlichkeit« der doch immerhin benachbarten Welten? In der Aikidowelt, wo ich mich seit über 30 Jahren bewege, kommt mir die Erfahrung mich innerhalb verschiedener Kulturen bewegen zu müssen jedoch zugute, denn auch das kleine Idyll »Aikidowelt« ist von »Fremdheit« geprägt.

»Fremdheit« aber wird jedem von jedem bescheinigt, der nicht direkt unter demselben Dache Platz nimmt wie man selbst.

Wir leben in einer individuellen Gesellschaftsform, welche weit von der Utopie einer Kollektivgesellschaft entfernt ist. Die daraus resultierende »Fremdheit« behindert jedoch einen jeden, denn sie obliegt der Täuschung, Opfer bringen zu müssen, Opfer für ein wenig Achtung und Zuneigung, wofür wir scheinbar bereit sind alles Undenkbare zu tun.

Wie weit ist der Weg, den wir zurückgelegt haben, um trotzdem an dieser ja »lächerlichen« Zuneigungsform zu scheitern, oder gar von ihr abhängig zu sein. Ist das der Grund, warum wir so selten sagen, was wir denken? Weshalb sonst halten wir an all den »lähmenden« Dingen dieses Lebens fest, die unsere »Freiheit« blockieren, wie Anerkennung durch sogenannte Lehrer, gedankenlose Eltern. Warum können wir zerrütteten Ehen nicht klar und deutlich »adieu« sagen, was bindet uns an langweilige Geburtstagsfeiern oder verlogene Freundschaften? Ein Stagnieren der Entwicklung wird zwar gesehen und gespürt, aber die Ängste vor dem Verlust der Achtung und Zuneigung lähmen anscheinend.

In all den letzten Jahren führte ich mit sehr Vielen Gespräche und hörte sehr viele Geschichten von Aikidokas und Dojoleitern, die mir mit wenigen Ausnahmen zeigen, dass die Budo- und Kampfkünste sich auf dem „absteigenden Ast“ befinden. Dojoinhaber sprachen von sinkenden Schülerzahlen, sogar von Mietrückständen, Schließungen von Dojos und den Schwierigkeiten gar die Nebenkosten aufzubringen. ... Auch von ehemals großen Schulen vernahm ich, dass sie schwere Zeiten durchmachen…

Was ist passiert, dass die Budo- und Kampfkünste so an Attraktivität verloren haben? Was ist geschehen, dass es mittlerweile scheinbar mehr Dojos als Interessenten gibt? Oft sehe ich nur noch zwei Schüler und einen Lehrer auf der Tatami.

Wo ist die Freiheit, die Harmonie widerspiegelt? Stimmt etwas an den Systemen nicht mehr? Sollten wir nicht vielleicht versuchen, unsere Probleme mit den distanzierten Augen eines »Fremden« zu beobachten um auf diese Weise zur Selbsterkenntnis und zu Lösungsansätzen zu finden?

Warum bloß ist der offene Blick so schwer? Wie sind anscheinend träge Wesen, die Vertrauen bedürfen. Neugierde als einen selten Luxus betrachten. Fest stehen und mit dem Offenen spielen können, in jedem Augenblick, es wäre eine Kunst. Wo ist die Virtuosität, die mich zum Virtuosen der offenen Zukunft macht…

 

 

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