Horst Schwickerath

Das professionelle Ethos kommt ins Wanken

Mit der »globalen Fusionierung« Mitte bis Ende der neunziger Jahre begann uns eine nicht zu stoppende Informationswelle zu überrollen. Dank der elektronischen Vernetzung über den ganzen Globus stieg die Kommunikationsgeschwindigkeit, damit auch der Druck am Arbeitsplatz (und selbst im Privatbereich), somit der Stress und dadurch auch die Gefahr, häufiger zu erkranken.

Mit den portablen Telefonen sind wir heute jederzeit und überall erreichbar. Die Korrespondenz über E-Mail lässt uns kaum mehr Zeit, uns Gedanken zu machen zum Inhalt, den wir vermitteln wollen. Aufträge, die früher unter Umständen durch die Postwege etwas mehr Zeit beanspruchten, auch Reservezeit im positiven Sinn, verkürzen sich heute auf wenige Stunden. Dass der Arbeitende so ständig »unter Strom« steht, ist vorprogrammiert. Dass er Gefahr läuft, krank zu werden, auch. Die Krankheitsbilder, die mit Stress zusammenhängen, sind vielseitig. Die Klagerufe über den immer höheren und noch gestraffteren Termin- und Leistungsdruck häufen sich.

Ruhe! »Lasst mich endlich in Ruhe!« So mag ein erfolgreicher Manager insgeheim stöhnen. Er mag vielleicht auch folgendes denken: »Eigentlich war ich immer aktiv und gesellig, heute kenne ich das Wort Sport nur noch vom Hörensagen und Freunde sind bei den Geschäftsbeziehungen einzuordnen. Meine Kinder sind mir fremd und meine Frau hat immer das Gefühl, ich sei noch gar nicht zu Hause angekommen. Im Bett läuft auch nicht mehr viel, zu ausgebrannt, leer und ohne Antrieb.«

Ausgebrannt, leer, ohne Antrieb: Die grosse Müdigkeit, die den sonst so engagierten Mittvierziger befällt, ist keine Midlife-Crisis. Vielmehr wehrt er damit einen Druck ab, der seit Jahren nicht mehr stossweise anfällt, sondern chronisch; eine neue, bohrende Totalität, mit der die Arbeit immer mehr Lebenszeit fordert, immer tiefer in die Innenwelt dringt. »Es hört nie auf«, erklärt der Manager seinen Rückzug in die Lustlosigkeit. »Du schuftest immer länger, aber auch danach drehen sich die Aufgaben weiter im Kopf.« Und im Magen drücken »Seelenschmerzen«, wie der Bedrängte sein »Dauergefühl« angespannter Überforderung nennt.

Ein typischer Fall. Solche Seelenschmerzen spüren keineswegs nur Führungskräfte, sondern zunehmend Berufstätige in fast allen Hierarchiestufen und Branchen. Seit Beginn der neunziger Jahre, als Marktliberalisierung, Privatisierung, Rationalisierung und Fusionierung sich zu überschlagen begannen, belegen Studien eine auffällige Zunahme psychomentaler und sozialer Belastungen in der Arbeitswelt.

So ergab eine Umfrage des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im Jahr 1999, dass über die Hälfte der deutschen Erwerbstätigen häufig oder ständig unter hohem Termin- und Leistungsdruck rackert (s. auch unter www.iab.de). Knapp ein Fünftel der Beschäftigten, gaben an, sie müssten im Job meist oder immer bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit gehen. Seither hat sich der Konkurrenzdruck am Arbeitsmarkt noch verschärft: ringsum werden zigtausendfach Stellen gestrichen.

Kein Wunder, dass sich laut jüngeren Befragungen bereits 60 Prozent der Beschäftigten in technischen und verwaltenden Berufen ständig überbeansprucht fühlen.

Der DAK-Gesundheitsreport 2002 registrierte innerhalb von vier Jahren eine Zunahme der Krankheitstage aufgrund »psychischer Störungen« um 50 Prozent. »Um unter globalen Konkurrenzbedingungen wettbewerbsfähig zu bleiben«, sagt der Berliner Sozialwissenschaftler Ulf Kadritzke (www.bbv-net.de), »...werden die Unternehmen zu Fabriken der täglichen Stressproduktion«.

Dazu kommt, dass die Tabuisierung in der Arbeitswelt den Druck noch erhöht, »wer zeigt schon Schwäche, wenn überall entlassen wird«? Doch dass der Körper irgendwann in Disharmonie gerät, wenn seine archaischen für akute Lebensgefahr programmierten Hormonausschüttungen chronisch werden, ist psychoneurologisch ebenso belegt.

Über dem Alltagskampf lastet zudem die Ungewissheit, wie lange der eigene Arbeitsplatz erhalten bleibt. Emotional habe die Mehrheit der Menschen noch keineswegs bewältigt, dass ihnen dieser einst sichere Boden ihrer Lebensplanung unter den Füssen weggebrochen ist. Der Umbruch ist längst zum tief verstörenden Dauerzustand geworden.

Dabei gehören moderne Kommunikations- und Informationssysteme doch zu den segenreichen, arbeitserleichternden Maschinen. Wachsende Kundenkontakte in aller Welt über Zeitzonen hinweg, Laptop und Handy als ständige Begleiter auf Reisen und zu Hause - der kommunikative Ansturm ist rasch nicht mehr zu bewältigen. Längst nicht jeder hat gelernt, bei der Flut von Briefen, Faxen, Anrufen und E-Mails souverän Prioritäten zu setzen. Das professionelle Ethos kommt ins Wanken. »Wie viel oberflächlicher kann ich noch arbeiten, um gut zu bleiben« - auch das nagt an der Seele. Sogar in bereits »verschlankten« Unternehmen jagt eine Umstrukturierung die andere. Da kommen Routine, Vertrauen und Phasen der Erholung gar nicht erst auf.

Ein unerwarteter Angriff, löst ähnliche Stresssituationen aus. Sicherlich erginge es dem geübten Aikidoka ähnlich wie unserem Manager, wenn er nicht ständig mögliche Situationen üben würde. Dieses »wägt ihn in Sicherheit«, erlaubt ihm, sich im übertragenen Sinne, »zurück zu lehnen, und zu zuschauen« - »er fühlt sich schlichtweg sicher, da ihm nichts 'neues' widerfährt«. Der Angriffsdruck strapaziert im Idealfall nicht »seine Nerven«.

Wie kann sich der Angestellte, der Manager die Zeit nehmen, die »sich ein Aikidoka gönnt«?

Horst Schwickerath

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