Man stellte mir in den letzten Woche ver­mehrt die Frage, warum ich denn im letzten Edi­torial die Frage des Freundes nicht klarer, nicht ein­deu­tiger beantwortet habe. Kann ich das, könn­te ich das, kann man eine solche Frage über­haupt be­a­n­t­worten?

Dazu fiel mir folgende Geschichte wieder ein:

    Sokrates: Weisst du nun, wie du ganz dem Gotte wohlgefällig wirst, wenn du das Reden aus­übst oder darüber sprichst?

    Phaidros: Ich nicht. Und du wohl?

    Sokrates: Eine Sage hierüber kann ich von den Alten berichten, die Wahrheit aber wissen nur jene selbst. Ich habe gehört, zu Naukratis in Ägypten habe es einen der alten Götter des Lan­des gegeben, dem auch der heilige Vogel, den sie Ibis nennen, geweiht war. Diese Gottheit tra­ge den Namen Theuth. Dieser habe zuerst Zahl und Rechnung erfunden, dann Brettspiel und Würfel­spiel und schliesslich auch die Buch­sta­ben. König über das gesamte Ägypten war da­mals Thamus. Zu diesem kam Theuth und zeigt ihm seine Künste. Thamus aber fragte von jeder, welchen Nutzen sie brächte, und wie jener es er­klärt, so lobte er und tadelte, was ihm gut oder nicht gut erklärt schien. Als er aber zu den Buch­staben kam, sagte Theuth: »Diese Kunde, o Kö­nig, wird die Ägypter weiser machen und ihr Ge­dächt­nis erhöhen, denn zur Arznei für Gedächtnis und Weisheit wurde sie erfunden.«

    Der aber erwiderte: »O kunstreicher Theuth, ein anderer ist fähig, die Werkzeuge der Kunst zu erzeugen, ein anderer wieder zu beurteilen, wel­ches Los von Schaden und Nutzen sie denen ertei­len, die sie gebrauchen werden. Auch du sag­test jetzt als Vater der Buchstaben das Gegenteil des­sen, was sie bewirken. Denn wer dies lernt, dem pflanzt es durch Vernachlässigung des Gedächt­nisses Vergesslichkeit in die Seele, weil er im Vertrauen auf die Schrift von aussen her durch fremde Zeichen – nicht von innen her aus sich selbst die Erinnerung schöpft. Nicht also für das Gedächtnis, sondern für das Erinnern fandest du ein Mittel. Von der Weisheit aber verleihst du deinen Schülern den Schein, nicht die Wahrheit.

    Denn wenn sie vieles von dir ohne Unterricht gehört haben, so dünken sie sich auch Vielwisser zu sein, da sie grösstenteils Nichtwisser sind, und sie sind lästig im Umgang, da sie statt weise dünkel­weise geworden sind. Wer also glaubt, sei­­ne Kunst in Buchstaben zu hinterlassen, und wer sie wieder aufnimmt, als ob etwas Klares und Festes aus Buchstaben zu gewinnen sei, der strotzt von Einfalt.« (Platon, Phaidros)

    Passen diese Worte, diese Erklärung nicht wunderbar in die Welt des Aikidos? So wissen wir doch, dass O'Sensei den Techniken zwar den Na­men gab, aber er gab keine weitere Erklärungen.   
    So will ich denn jedem Einzelnen überlassen, für sich zu entscheiden, seine Schlüsse selber zu zie­hen und letztlich den Weg zu gehen, den zu ge­hen er als richtig empfindet, immer mit Re­spekt, dann kann nichts schief gehen.

    Und wenn mein Freund nun wirklich zur Zeit das Gefühl hat, mit Aikido nicht weiterfahren zu wollen, dann mag es für ihn so stimmen, viel­leicht braucht er einfach Distanz, um mit dieser Distanz erneut zum Aikido zu finden, vielleicht will der wieder sehend werden, weil er blind ge­worden ist, betriebsblind würde man in einem Un­ter­nehmen sagen... Vielleicht findet er aber auch nicht mehr zum Aikido zurück, einfach, weil dieser Lebens­abschnitt vorbei ist und er nun das Gelernte im Leben umsetzt und anwendet – oder auch nicht. Können ihm Worte helfen?

    Ich glaube, die Überzeugung, etwas zu tun, es nicht zu tun, kann und darf nur aus einem selbst heraus bestimmend sein. Was bringt es, wenn ich nun meinem Freund nahelege, doch un­bedingt da weiterzufahren, wo er sich zur Zeit blockiert fühlt. Ob ihm das hilft....? Ich bin kein Missionar und will es auch nicht werden. Ich scheue das Fanatische und das Alleinselig­ma­chen­de...

    ...was man so selbstverständlich liebt, das hin­ter­fragt man... oder man sollte es auf jeden Fall hinterfragen...

Ihr Horst Schwickerath

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