Vor einigen Tagen wurde mir von einem Freund eine E-mail mit fo­l­gen­dem Nachsatz zugesandt:

    »...nenne mir einen guten Grund, mit Aikido weiter zu machen«!

    Erst staunte ich, dann begann ich über seine Frage nachzudenken. Und setzte seine Frage auf die Aikidojournal-Diskussions-Liste, was lei­der ohne nennenswerte Resultate blieb. Zwar meinte ein Teilnehmer »sehr inter­es­san­te Frage«, ein anderer verwarf die Frage gleich mit Ge­schrei um die »hei­lige Kuh« Aikido und dessen Kodex und ein weiterer glaub­te wohl, mei­ne Ambition als Seelentröster erkannt zu haben.

    Dabei höre ich oft, in nicht öffentlichen Gesprächen, das Stöhnen der Leh­rer und Trainer. Sie fühlen sich missverstanden, nicht beachtet, aus­ge­saugt etc.

    Warum lassen sie sich das gefallen?

    Aber noch immer stehe ich mit der mir gestellten Frage alleine da... So kreisen meine Gedanken: Vor meinem geistigen Auge sehe ich eine »fremde asiatische Kultur«, die für mich noch immer mit Bildern und Be­we­gungsabläufen arbeitet, die nicht erklärbar sind. Viel weniger noch de­ren Wirkung auf Körper und Geist.

    Warum lassen wir uns das gefallen?

    »Warum wird ein Aikidoka Trainer und Lehrer«? Trainer wird man schnell, ich erinnere mich, dass ich schon nach einjähriger Praxis dieses Amt stellvertretender Weise auf mich nahm. Aber, war das richtig, ver­ant­­wortbar?
 
    Verantwortung? Ist der Stolz Rechtfertigung genug? Kann ich nach so kurzer Zeit Aikido vermitteln? Ich kann es ja kaum in Worte fassen. Bilder vermag ich aber auch nicht zu vermitteln. Spüre ich mein Gegenüber in seinen Bedürfnissen? Was fordert eine solches »Amt«? Welche Kenntnis ist erforderlich, und vor allen Dingen, welche Ausdauer ist erforderlich, damit alle Seiten »befriedigt« sind?

    Es ist wohl für den Menschen schwierig, in einem linearen Kontinuum zu leben. Man ist auf zyklische Strukturen angewiesen. Die Sehnsucht nach Erneuerung, nach Regeneration führt unweigerlich zu Wieder­ho­lun­gen. Zum Wunsch, etwas möge genau so geschehen, wie es einmal war! Man ordnet die Zeit, so dass sie zyklisch verläuft, dass man einen Neu­an­fang machen kann in der Zeit, dass man Gren­zen ziehen kann. Das hat etwas Entlastendes, aber auch etwas Bindendes. »Warum wird ein Aikido­ka Trainer und Lehre«?

    Nehmen wir die heutige Familie. Um ein Bei­spiel unter vielen zu nennen: Der Traditions­ver­lust durch Wegfall von religiösen Riten, be­dingt durch den Konsumzwang, unter anderem. Weih­nachten und Ostern werden aus anderen Grün­den, vor einem anderen Hintergrund ge­feiert als früher. Der Individualismus steht an er­ster Stelle, aus Gross­familien wurden Klein­familien, die ältere Ge­ne­ration wird nicht mit­­getragen, sondern geht ins Alters- und Pfle­ge­heim, das Singletum hat Tra­dition. Was bleibt, sind Wünsche, die, wenn sie nicht befriedigt werden, Anlass zu Streit ge­ben. Was wiederum dazu führt, dass der Streit we­nigstens eine gemeinsame Aktion ist, zum Ritual wird bzw. werden könnte. Nach dem Motto, man hat alles und doch nichts, also streitet man sich. Das Ritual zeigt etwas Vergessenes, was im Un­ter­bewusstsein noch vorhanden ist, dessen An­lass aber vergessen ging.

    Es gibt noch andere Beispiele: Wenn der Show­master in der Fernsehsendung die grosse ge­­­schwungene Treppe herabschreitet, aus einer Tür, hinter der Licht ist, die niemand öffnet, die sich aber scheinbar durch Geisterhand öffnet, dann fallen uns kultische Zusammenhänge ein.

    Wie weit diese unbewusst eine Rolle spielen, weiss ich nicht. Aber das von Geisterhand »ins Licht gestellte« und herrschaftlich aus der Höhe zum teilhabenden Publikum Herabkommende er­in­nert an Bilder, die wir alle schon gesehen ha­ben – an gewisse Heilandsbilder zum Bei­spiel. Ob da der Zufall mitspielt? Gewaltige Zitate von kulturgeschichtlichen Zusammenhängen, die wohl dafür verantwortlich sind, dass die Men­schen sich das gefallen lassen. 

    Was passiert nun mit uns auf der Tatami?

    Ich fühle mich an das Mittelalter erinnert, die Wahr­nehmung von kulturellen Traditionen ge­schah im Mittelalter für die meisten Menschen man­gels Kenntnis, nicht über das Geschriebene, son­dern über Bilder. Besonders rituelle Szenen wur­den wiederholt dargestellt, um damit einen Erin­nerungswert zu schaffen. Die Wandlung vom Bild zum Wort, die Anwendung der Schrift brach­te den Wandel. Diese rituelle Wandlung in die Schrift hat eine kompensatorische Ausbalan­cie­rung zu den Gesetzen geschaffen. Im Juden­tum galt das Gesetz auch als Ritual. Es regelte den Ta­ges­ablauf.

    Ritualisieren wir Aikido?

    Rituale haben eine Kultur erhalten und Kultur stif­tende Wirkung. Allerdings darf nicht ver­ges­sen werden, das die Semantik der Riten sehr fle­xibel ist. Aber auch heute noch haben sie vor al­len eins, sie »binden« und sie »entlasten«. Das Bin­dende ist wohl das Augenfälligste. Sie orga­ni­­­sieren, strukturieren, sie ordnen, sie schaffen Struktur in der Zeit.


    PS: In Deutschland bewegt sich wieder der »Verbandshimmel...«, nicht zu verwechseln mit Verbandschimmel – Aiki scheint einmal mehr in den Hintergrund geschoben worden zu sein. Welche Gefühle beflügeln wohl mehr als Liebe...??
Mal- und Zeichenwettbewerb

    Auf vielfache Anregung hin wollen wir einen »kleinen Mal-/ Zeichenwett­bewerb« ausschreiben! Die Zeichnung soll­te eine Technik oder eine aikido­ty­pische Situation wiedergeben. Teil­neh­men darf selbstverständlich jeder, der meint, etwas Sehenswertes zu Pa­pier brin­­­gen zu können.

    Die Jury setzt sich aus den Lesern des Aikidojournals zusammen.

    Denn alle Einsendungen werden in der Ausgabe 1-2003, N° 33D  bzw. der N° 5F der französischen Ausgabe veröf­fentlicht. Einsendeschluss ist folglich der 15. November. Der/die GewinnerIN wird in der Ausgabe 2-2003 = N° 34D (6F) bekannt gegeben.

    Der Gewinner erhält ein Buch.

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