Horst Schwickerath

Ein Boxer boxt, gleichgültig ob er Amateur oder Profi ist. Auch ein Ringer, gleichgültig ob sein Stil griechisch-römisch oder frei ist, ringt. Ganz einfach. Ohne sich all zu viele Fragen über seine Ausübung zu stellen. Ein Koryu-Praktikant, ein Schüler einer der historischen Schulen japanischer Kampfkunst wie das Kashima Shinto-ryu kenjutsu, das Yagyu Shingan-ryu taijutsu oder das Shinto Muso-ryu jojutsu stellt sich auch nicht mehr fragen über was er tut. Er wiederholt uralte Gesten ohne zu behaupten, dass sein Training eine andere Dimension hätte als die Weitergabe eines Kunsterbes. 1)

Das Volk der Aikidoka irrt immer noch im Sinaï umher auf der Suche, wenn auch nicht nach dem versprochenen Land aber nach seiner Identität.

Sport? Spirituelle Übung (im Sinne wie es Ignatius von Loyola verstand)? Freizeitaktivität? Initiationssuche? Elegante und subtile Selbstverteidigung? Meditation während der Bewegung? Wie oft hat man nicht einen Aikidoka »Das ist aber kein Aikido« sagen gehört, als er einem Trainingsstil gegenüberstand, der nicht der seine war?

Die Intoleranz ist nur die arrogante Maske der Selbstunsicherheit. Weil wenn »das« auch Aikido wäre, was ist es dann, das was ich tue? Der Fundamentalist und fanatische Wache der Aiki-Orthodoxie im gleichen Korb wie die Dame aus dem oberen Viertel, die einen wöchentlichen Kurs zwischen zwei Wellness-Aktivitäten besucht? Horror! Und man kommt nicht einfach mit dem Spruch davon: »Aikido ist das Leben und es hat dessen Vielfältigkeit«. Einer Frage aus dem Weg gehen, ist nicht gleich Tenkan machen! Aikido wirft Fragen auf, die geistig fitten Praktikanten spüren es.

Wenn man die Fülle und die dominante Thematik der Literatur, die sich mit Aikido befasst, betrachtet sowie die Anzahl der Praktikanten, die zur Feder greifen, dann erscheint die Suche - ein Wort, nach dem die französischen Aikidokas besonders lüstern sind - weniger die nach dem wahren Aikido zu sein - dieses findet unserer bescheidenen Meinung nach auf der Matte und mit viel Schweiss statt - als die nach sich selbst. Und für viele lautet nach zwei oder drei Jahrzehnten Training die Frage gleichermassen »Was mache ich hier?« wie »Wer bin ich?«. Vom Aikido als Frage zur Infragestellung des Aikidos: die alte Lebensregel »Wenn du Buddha triffst, töte ihn« findet hier eine wunderbare Bebilderung.

Man wird uns entgegensetzen, dass all dies nur hohles Geschwätz ist, das einen winzig kleinen Teil der Praktikanten beschäftigt, dass nur einige Dutzend weicher Hirnmassen nicht zählen gegenüber den 50000 Praktikanten (oder besser gesagt Verbandsmitgliedern) und, dass alles relativ gut läuft in der Aikiwelt. Die Shihans shihanen, die Leiter leiten, die Kassierer kassieren, die Lehrer lehren und die Praktikanten schwitzen.

So sieht's aus. Bei den aktiven und engagierten Praktikanten sind diese Fragen viel weiter verbreitet und präsent.

Wenn für einen externen Beobachter das Aikido wie eine Sekte erscheinen kann (seltsame Aufmachung, merkwürdiges Ritual, esoterische Sprache) ist es in Wahrheit wie eine Kirche strukturiert. Während die Masse der Getreuen Sakrament und Gebot betrachtet, liegt die Ausrichtung und der Fortbestand der Institution in den Händen einer Theologenhierarchie. Es ist das, was auf dieser Ebene passiert, das entscheidend ist. Der Priester in seiner Gemeinde übermittelt einen Unterricht so wie es ihm beim Seminar von den Glaubensdoktoren und ihren Nachfolgern »erklärt« wurde.

Die Situation der Lehrer in ihren Vereinen ist nicht viel anders. Was »oben« passiert wird früher oder später bestimmen, was man »unten« macht.

Wenn »oben« Zweifel entstehen zur übermittelten Lehre und deren Zweckbestimmung (steht Aikido im Dienste des Friedens? für die Krisenbewältigung in den Vororten? Der Lösung von Probleme in Firmen? Hilft Aikido Rückenproblemen und Ängste?), dann kann man nicht erwarten, dass es »unten« blüht. Wir laden unsere Leser ein, ob »Basisgetreue« oder »grosse Priester«, uns ihre Überlegungen mitzuteilen.

Eine letzte Bemerkung: Das Aikidojournal ist eine unabhängige Magazin, welches Praktikanten sowohl wie Lehrern und Aikidokas aller Richtungen erlaubt, das Wort zu ergreifen. Dass die Äusserungen des einen dem anderen missfallen können, ist ganz normal.

Dass da heraus aber Reaktionen entstehen, die weit über Intoleranz hinausreichen und beinahe krankhafte Gebaren spiegeln - die sogar gegen uns gerichtet sind - sagt viel über die Unsicherheit aus, die so manch einer hinter seinem Gürtel versteckt.

Wir formulieren an dieser Stelle eindeutig, was für uns eigentlich schon immer selbstverständlich war: Namentlich gekennzeichnete Beiträge und Äusserungen, die bei Gesprächen gemacht werden, verpflichten nur ihre Autoren und geben nicht unbedingt die Meinung der Aikidojournal-Redaktion wieder. Sie hält - nach wie vor - ihr Journal für ALLE Strömungen des Aikidos und deren Vertreter offen. Des weiteren erlaubt sich die Redaktion von Zeit zu Zeit, ein klein wenig provokativ zu sein.

Ihre Aikido-Journal-Redaktion

 

1) Wir empfehlen unseren englischsprachigen Lesern die reichen Seiten von Diane Skoss unter: http://www.koryubooks.com/index.html

und die von Kim Taylor: http://www.uoguelph.ca/~kataylor/
sowie ganz besonders sein
»Electronic Journal of Martial Arts Sciences« unter http://ejmas.com/)

© Copyright 1995-2024, Association Aïkido Journal Aïki-Dojo, Association loi 1901