Begegnung mit Anno Sensei von Thorsten Schoo

Eine Reise nach Kumano

Der Autor thorsten Schoo mit Sohn Noah.
Der Autor thorsten Schoo mit Sohn Noah.

Es klingelt morgens um halb acht in meinem Hotelzimmer in Shingu, Wakayama Präfektur in Japan.
Die ganze Nacht über trommelte ein schwerer Regen als Vorbote der Typhoons [anm. d. Red.:Wirbelwind] gegen die Fenster. Um halb fünf rollt der Typhoon über die Stadt. Das Stahlseil am Fahnenmast auf dem Dach des Hotels klappert und heult als würde sich die Unterwelt öffnen.


 


„Hello, it‘s Tim ...“ – „Hi, Tim …“ – Es dauert lange, bis ich vom Läuten des Telefons wach werde. – Tim Detmer ist ein Amerikaner aus Seattle, der seit 30 Jahren hier in Shingu lebt und trainiert. Er ist ein Schüler des legendären Hikitsuchi Sensei (1924-2004), 10. Dan und Anno Sensei (*1931), 8. Dan. Tim unterrichtet selbst im Kumano Juku Dojo hier in Shingu, das Osensei selbst unzählige Male in seinem Leben besucht hat. „If you want to understand Aikido you have to understand the spirit of Kumano“ hat Osensei oft gesagt. – Und das ist auch der Grund, weswegen ich selbst die lange Reise von Tokio nach Kumano angetreten habe.
„Das Training ist heute Morgen ausgefallen“, meint Tim, „es wäre zu gefährlich gewesen, auf die Straße zu gehen, wegen des Typhoons.“ Tim ruft, wie er sagt, von der Hotellobby aus an. „Anno Sensei hat sich für heute 8:30 angekündigt. Er kommt extra mit dem Auto zu uns. Hast du Lust, dabei zu sein?“
„Sure! In 10 Minuten bin ich unten.“ Ich bin hellwach. Anno Sensei – jetzt schon 83 Jahre alt – hat im letzten Jahr das reguläre Training im Kumano Juku Dojo in Shingu abgegeben, und da er in der 30 km entfernten Kumano-Stadt wohnt, sieht man ihn nicht ohne weiteres.
Das Treffen mit Anno Sensei und zwei Schweizer Aikidoka – Urs Keller und Pia Schibler – die schon vor 10 Tagen in Shingu angekommen waren, war verschoben worden. Glücklicherweise, denn so konnte ich unverhofft den Mann sehen, über den die amerikanische Aikido Lehrerin Begegnung mit Anno Sensei – Eine Reise nach Kumano Linda Holiday ein wirklich gutes Buch geschrieben hat: ‚Journey to the heart of Aikido. The teachings of Motomichi Anno Sensei.‘
Wir treffen uns in Iku‘s Café, das Tim mit seiner japanischen Frau betreibt – Anno Sensei, Tim, Alfonso (ein Spanier, der seit 4 Jahren hier lebt), Pia, Urs und ich. – Ich bin überrascht, wie klein Anno Sensei ist! Er sieht auf den ersten Blick aus wie ein alter Reisbauer, in dunkelblauer Arbeitshose und einem weißen T-Shirt. – Aber eben nur auf den ersten Blick.
Linda beschreibt in ihrem Buch einen Mann, der voller Dankbarkeit zurückblickt auf ein Leben mit Osensei und Hikitsuchi Sensei, dessen klare Mission es ist, den nachfolgenden Generationen die Lehren Osensei‘s weiterzugeben. “Rather than focusing on what you yourself can do, I suggest you try to convey what Osensei did.” And: “We must train until we have a natural state of mind: a mind like water, like a cloud, we must continue our practice until we have no consciousness of having an opponent at all.” Osensei nannte das ‚Auf der schwebenden Himmelsbrücke stehen‘.
Doch jetzt wird erst einmal Kaffee und eiskaltes Wasser serviert. Der Typhoon ist inzwischen weiter nach Norden gezogen, der Himmel strahlend blau, der Druck in der Luft fühlt sich wieder normal an. Anno Sensei holt zwei große und zwei kleine Umschläge aus seiner Tasche hervor, die er jeweils Pia und Urs aus der Schweiz und mir aus Deutschland überreicht. Enthalten sind wunderschöne Kalligraphien, die Sensei für uns gemacht hat. – Ich bin etwas perplex und sehr gerührt.
„Ko zen no Ki“ – das ist die große Kalligraphie, die uns zuerst erklärt wird. ‚Ko zen no Ki‘ ist ein Wort des chinesischen Philosophen Konfuzius, mit etwa der Bedeutung von „Das Ki der sich ausdehnenden Natur“ (The Ki of the expansive Nature).
Society is expanding at the surface”, erklärt Anno Sensei, “but what we need is to expand in the core.”
Das Universum dehnt sich aus. Das sagt Konfuzius, das sagt die Wissenschaft, das sagt auch der Shinto. Die erste Kami, die Center-of Heaven Kami (Ame-no-mi-naka-nushi-no-kami) – sie gibt den initialen Impuls, und zieht sich nach getaner Arbeit wieder zurück. Das Universum nimmt seinen Lauf.
Im Shinto gibt es keinen metaphysischen Gott. Das Universum selbst und alles, was das Universum ausmacht, ist göttlich. Dergestalt sich selbst überlassen und ohne allmächtige Führung kommt dem Menschen als selbst-reflexivem Teil dieses göttlichen Universums eine große Bedeutung zu. “Man is divine spirit at the divine crossroad or in the divine universe, choosing his way” wie J.W.T. Mason in seinem Buch über Shinto sagt, oder Anno Sensei in diesem Zusammenhang: “See the big picture!”
“The first thing Osensei taught us was ‘Take musu Aiki’” – Anno Sensei entfaltet die zweite Kalligraphie. “Today, after a long period of training and reflection, for me ‘Take musu Aiki’ simply means: bringing people together.”
‚Take‘ in ‚Take musu Aiki‘ ist das japanische Zeichen für das chinesische ‚Bu‘ – den Speer anhalten, den Kampf beenden. – ‚Musu‘ bedeutet ‚verbinden‘, aber auch ‚gebären‘. – ‚Take musu Aiki‘ beendet den Kampf, indem wir eine neue Verbindung eingehen, aus der heraus etwas Neues geboren wird. – Wieviel präziser ist dieses Verständnis gegenüber meinem bisherigen Verständnis: die martialisch richtige Antwort auf jedwede Situation …
In Wirklichkeit geht es im Aikido um viel mehr als nur um das kluge Kämpfen. Anno Sensei‘s ethischer Kompass ist klar ausgerichtet: „Take musu Aiki is about making friends“. Damit steht er hinter Osensei. Du sollst unbesiegbar sein – aber das wirst du erst sein, wenn dein Bewusstsein so weit ist, dass es darin keine Gegner mehr gibt. (No consciousness of having an opponent at all.)
‚Shin zen bi‘ ist die dritte Kalligraphie, die Anno Sensei kurz hochhält, offensichtlich nur, damit wir uns an sie erinnern können. Sensei geht offenbar davon aus, dass wir wissen, worum es geht. – Ich weiß es leider nicht mehr und schlage die Bedeutung später in ‚The journey‘ noch einmal nach: ‚Shin zen bi‘ meint truth, goodness and beauty.
“Every manifest form in the universe – trees in the mountains, people etc. - is made by the power of Kami. And Aikido is born from the heart – kokoro - of Kami” sagt Osensei in ‘The journey’. „Osensei sagte oft, dass er Aikido nicht selbst erfunden habe, sondern dass er es von der Natur abgeschaut habe (learned from the mysterious workings of nature) so sein Schüler Anno. „Es scheint logisch, dass wir die heilige Natur des Universums mit unserem Körper zu absorbieren versuchen, um Aikido zu verstehen. – Das ist der Weg.“
‚Shin tzu Aikido‘ – unser viertes Geschenk. „Shin tzu Aikido ist ein Aikido, das dich wirklich mit der Natur (workings of nature) verbindet. Shin tzu Aikido ist ein Aikido, das die Kami verstehen, weil es eine expansive Natur hat.“ Expansive Natur. Das Universum dehnt sich aus …
Ame-no-mi-naka-nushi-no-kami, die Center-of Heaven Kami (wir erinnern uns: das ist die Kami des initialen kreativen Impulses (Mason)) wird im Kumano Juku Dojo täglich während der Furutama-Übung meditiert. Du verbindest du dich im Training mit dem kreativen Impuls des Universums …
Wenn wir zurückdenken an unsere Eltern, deren Familien und Vorfahren und die Stämme, die gewandert sind - wir sind alle miteinander verwandt. Die Menschheit reiht sich ein in die Geschichte des Planeten, in die Geschichte, die der kreative Impuls Ame-no-mi-naka-nushi-no-kami angestoßen hat (Mason). Mit dieser Sicht ist es leicht, mit den Sempai, den Lehrern und den verschiedenen Stilrichtungen des Aikido mit der richtigen Haltung und Bescheidenheit in Verbindung zu bleiben. Im großen Bild sind wir eine Familie, es ist manchmal nur schwer, dies auch zu erkennen und entsprechend zu leben.
Sensei hält einen Augenblick inne, der Geschichtsausdruck verändert sich. „Dies ist eine sehr schwierige Zeit“, sagt er, „und ihr - als Lehrer - müsst stark sein, um Osensei‘s Botschaft an die nächste Generation weitergeben zu können. Durch eure Anstrengungen wird das Licht durchscheinen.“ Anno Sensei schaut ins Weite und schließt: „teaching the direction, that‘s what it is all about.“
Es fühlt sich so an, als ob wir uns schon eine Ewigkeit kennen würden. In die jetzt eintretende Stille hinein fragt Urs Keller nach der Bedeutung von ‚Masakatsu Agatsu Katsu Hayabi‘ - das ist eine Redewendung, die Sensei oft gebraucht: Der wahre Sieg über dich selbst ist dort, wo kein Raum und keine Zeit ist. Der wahre Sieg über sich selbst in einer Welt aus Raum und Zeit ist die Überwindung von Raum und Zeit.
Ame-no-mi-naka-nushi-no-kami - die Center-of Heaven Kami, lässt Raum und Zeit überhaupt erst entstehen. Diese Kami bringt den kreativen Impuls überhaupt erst in die Welt und zieht sich dann zurück. – Osensei will, dass wir das Herz des expansiven Universums verstehen und mit ihm Eins werden. Das geht nur, wenn wir ‚Masakatsu Agatsu Katsu Hayabi‘ verstehen: Raum und Zeit hinter uns lassen, um uns mit dem Anfang zu verbinden. Das ist vielleicht die tiefste Bedeutung von Musubi.
Anno Sensei sagt in diesem Zusammenhang etwas Wunderschönes: ‚Masakatsu Agatsu Katsu Hayabi‘ „das ist, wenn alles an seinen rechten Platz rückt“ (when everything falls into place).
Wenn du dich selbst überwunden hast, weil du mit dem Universum Eins geworden bist, dann stehst du auf der ‚schwebenden Himmelsbrücke‘. Diese Metapher (die offenbar gar nicht als Metapher gemeint war) hat Osensei oft als Anweisung zu Beginn jeder Aikido Stunde gebraucht: ‚Ame no uki hashi ni tatasarete‘, please stand on the floating bridge of heaven.
Ame no uki hashi ist im Shinto die Brücke zwischen Himmel und Erde, auf der der Mensch – als göttlicher Geist (Mason) seinen Weg geht. Ich glaube, Osensei wollte die Leute in seiner Sprache dazu einladen, was sie potentiell eigentlich schon sind: Himmel-und-Erde-Wanderer.
Tim Detmer, der wunderbar unauffällig übersetzt, bemerkt an dieser Stelle in eigener Sache, Hikitsuchi Sensei habe bei der Torifune-Übung davon gesprochen, dass der linke Fuß auf dem Wasser und der rechte Fuß auf den Wolken stehe ... - Hikitsuchi Sensei, 10. Dan, meinte damit die Vereinigung der weiblichen Ur-Kami Isanami und der männlichen Ur-Kami Isanagi. (Anno Sensei)
Wenn wir Gegensätzliches in unserem Aikido vereinigen können - z.B. die Qualität von Wasser und die Qualität von Stein, oder die Qualität des Hier und Jetzt und die Qualität des Dann und Dort – dann können wir auch alle Zwischentöne spielen und die Nuancen verstehen, die unser Leben so reich machen. Wenn wir diese Qualitäten bewusst und kreativ einsetzen, können wir Frieden machen mit uns selbst, mit den anderen und der ganzen Menschenfamilie.
„Jede Person hat eine eigene Botschaft“, beendet Sensei diese Begegnung. „You have to expand. Du sollst wachsen auf deinem Weg, wie das Universum selbst es tut.“ “The best place on earth is when everything comes together. It is the place of beauty and grace. That is the Floating Bridge of Heaven.”
Ich möchte Anno Sensei ganz herzlich für diese wunderbare Begegnung danken. Ebenso den Shihan des Kumano Juku Dojo, Tasaka Sensei und Kuribayashi Sensei, deren Stunden mir viel gegeben haben. Danke, Tim Detmer, für die empathische Übersetzung und natürlich für die tolle ganztägige Führung in der nördlichen Kumano Region. Herzlichen Dank auch an Urs Keller und Pia Schibler für Eure geteilten Erfahrungen, für Hocker und Kaffee in der Dojo-Küche.
Unabhängig davon, welche Aikido Stilrichtung ihr übt, kann ich jedem nur empfehlen, die Kumano Region und das Kumano Juku Dojo zu besuchen. Die Inhalte, die die Menschen hier noch teilen können, gehen weit über den technischen Aspekt der Kampfkunst hinaus und treffen mitten ins Herz.
Zur Vorbereitung empfehle ich die schon erwähnten Bücher von Linda Holiday: „Journey to the heart of Aikido“ und J.W.T. Mason: „The meaning of Shinto“ sowie Gerald Blaize: „Recherche du geste vraie“, das den technischen Aspekt von Hikitsuchi Sensei‘s Aikido gut erklärt.
Thorsten Schoo, 6. Dan, ist Dojo-cho des Frankfurt Seishinkai und Technischer Leiter von Seishinkai Aikido Deutschland.

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