Michael Zimnik aus Stuttgart

Ein großer Fehler liegt in meinen Augen im technischen Bereich, z. B. die Katas


Michael Zimnik im Gespräch mit Horst Schwickerath.

Ein Interview ist nicht immer leicht und diese Zweckgemeinschaft auf Zeit führt für beide Seiten nicht unbedingt zu einem runden Ergebnis. Durch Michaels Fragen über Techniken, deren Abläufe und Ausführungen und dgl., die sich besonders vor seiner 4. Dan Prüfung häuften und wegen seiner permanenten Unzufriedenheit kam mir die Idee mit dem Interview, welches sich letztendlich nicht nur in Bezug auf Terminabsprachen als schwierig erwies.

Heute sagt Michael: „Anfang der 90-er Jahre war meine Aikido-Welt noch schön und gut. Ich versuchte Bewegungen genau so nachzumachen, wie sie mir gezeigt wurden, also sabaki schön links und rechts herum, und fuhr voller Erwartung zur Prüfung auf den 2.Dan. „Du hast verbandsfremde Techniken gemacht“, erfuhr ich vom Prüfungsvorsitzenden Erhard Altenbrand als Begründung für mein Versagen. Außerdem hatte ich im Theorieteil bei der Erklärung des Begriffs ‚Effektivitätshierarchie’ null Ahnung. Woher hatte ich nur meine verbandsfremden Techniken? Ich hatte noch nie außerhalb des Verbandes trainiert. Aber mein Lehrer und Freund Eddi war damals gern in Frankreich bei Maitre Brun gewesen, was im Verband für Gesprächsstoff sorgte …

Zum ersten Mal begriff ich, dass es zwei Arten Aikido gibt: eigenes und verbandsfremdes. War Aikido also nicht Aikido?
Ich passte mich schließlich an, besuchte regelmäßig Lehrgänge unseres Verbandes, bekam meinen 2. und 3. Dan und meine Aikido-Welt war wieder schön, rund und gut.
Im September 2000 wurde ich ins Präsidium des Bundesverbandes berufen und erlebte die Spaltung des DAB. Danach war auf einmal ‚Öffnung’ angesagt. Plötzlich ‚durften’ wir auch außerhalb des Verbandes zu Lehrgängen gehen. Das, Horst, war übrigens die Zeit, in der wir uns kennen lernten. Ich war damals gerne bei anderen Verbänden auf Lehrgängen.
Verbandsfremde Techniken waren kein Thema mehr. Auf dem Herzogenhorn-Sommerlehrgang 2002 bestand ich die Prüfung zum 4. Dan. Alfred Heymann, der neue Bundestrainer, und Michel Hamon aus Frankreich leiteten diesen Lehrgang gemeinsam, was für mich besonders spannend war. Meine Aikido-Welt war noch runder, schöner und besser, die Zukunft war rosa.“

„Ich entwickelte mich weiter und merkte mit der Zeit, dass ich meine Entwicklung nicht dem Training innerhalb meines Verbandes, sondern hauptsächlich dem Aikido-Studium außerhalb zu verdanken hatte.
Bei meinen Besuchen, z. B. bei Lehrern wie den Senseis Asai, Tamura, Tissier, Jürgen Rohrmann (Kobayashi Hirokazu Ryu, Aiki-Osaka) und bei Dir habe ich viel gelernt; ja, ich hatte viele neue Erkenntnisse, die eine kritische Auseinandersetzung mit meiner eigenen Technik und der meines Verbandes nach sich zogen.“

Neue Erkenntnisse und kritische Auseinandersetzung, das klingt nach Unzufriedenheit?

„Ich habe an unser System geglaubt, jedoch bekam ich plötzlich Zweifel. Da ich sie aber nicht hinausschrie, sondern versuchte diese Widersprüche zu analysieren, begann eine Zeit der Skepsis und Verwunderung. Verwundert war ich, weil nach der Trennung von Brand und Altenbrand zu erhoffen war, dass sich endlich etwas entwickeln könnte. Ich sagte mir: „Jetzt kommt es zu der längst fälligen Weiterentwicklung, die bisher nicht möglich war“, zumal ja alle so dachten. Durch die neuen Bundestrainer haben sich natürlich die Ausführungen der Techniken etwas verändert, doch eine wesentliche Weiterentwicklung war für mich nicht zu erkennen. Ich kann das selbst bis heute nicht wirklich verstehen. Zwar habe ich Theorien, aber ich hinterfrage sie noch immer, weil mir die den Theorien zugrunde liegenden Intentionen nicht klar werden.“

Also ist dir der neu eingeschlagene Weg unklar!?

„Im Prinzip haben wir heute ziemlich große Freiheiten bei der Ausführung der Techniken. Das sehe ich positiv. Das ist aber auch keine große Leistung, denn wohl niemand will wieder zurück in die Verhältnisse – vor Allendingen menschlich –, wie sie vor der Trennung bestanden – deren ganzes Ausmaß mir auch erst später klar wurde.
Aber ich habe das Gefühl, dass man die Hemdsärmel lediglich einmal kurz hochkrempelte, sie dann aber nach sehr kurzer Zeit wieder in eine hindernde Position brachte, sprich: es ist nichts Großes bewegt worden.
Ein großer Fehler liegt in meinen Augen im technischen Bereich, z. B. die Katas – 1. Kata: ikkyo, nikyo, sankyo, yonkyo, gokyo im Stand, 2.Kata: die gleiche Reihe auf den Knien, 3.Kata: Nage-waza, … und so weiter.
Nummer 1, 2 und 4 wurden unverändert aus dem alten System übernommen, Nummer 3 wurde neu kreiert. Das Auswendiglernen dieser Reihenfolgen lenkt nach meiner Ansicht aber nur von wesentlichen Inhalten ab, ja, es werden sogar falsche Inhalte und Bewegungen vermittelt und verinnerlicht! Wenn uke mehr zum Gelingen der Technik beiträgt als nage, kann doch etwas nicht stimmen.

Das Studium dieser Katas bringt niemanden weiter, das Gegenteil ist der Fall.
Ich habe mir es mir mit viel Mühe abgewöhnt. Aber es bleibt ein Stolperstein, wenn der Vorstand solche Dinge nicht streicht. Schließlich bin ich nicht der Einzige in unserem Verband, der diese Trainingsform als dümmlich ansieht.“

Wer hat denn das kreiert?

„Das weiß ich nicht genau. Es hieß, Kisshomaru Ueshiba habe einmal die kata gezeigt, die heute im DAB die ‚erste Kata’ genannt wird. Sie soll durch Gerd Wischnewski nach Deutschland gekommen sein.
Ich kann mir vorstellen, dass Herr Ueshiba das vielleicht ‚mal’ so zeigte. Vielleicht hat Gerd Wischnewski dies auch nur mal so gezeigt und es war lediglich als Übungsform gedacht.
Wie diese kata dann fester Bestandteil der Prüfungsordnung wurde, weiß ich auch nicht. Ich weiß nur, dass die zweite Kata in suwari waza vom damaligen Vizepräsident‚ der für die Ausführung der Techniken zuständig war ‚entwickelt’ wurde. Weitere Katas folgten.“

Wenn man etwas nicht versteht, kompensiert man, um nicht angreifbar zu sein – man erstellt Blendbilder… oder Mythen.

„Ja, möglicherweise wurde Unsicher-heit bei der Bewertung durch eine strenge äußere Form kompensiert.
Die Bedeutung der ‚Kata’ ist jedenfalls ungeheuer groß. Wer in diesem Prüfungsfach nicht genug Punkte bekam, hatte eigentlich keine Chance mehr, die Prüfung zu bestehen. Also übten alle wie besessen die äußere Form, statt sich mit der Technik auseinander zu setzen.
Aber auch die Bewegungen, die Erkenntnisse daraus – das vermisse ich. Überall, wo ich außerhalb des Verbandes trainierte, werden solche Dinge erklärt. Dies führt zu kognitiven Erkenntnissen. Bei uns sagt dir der Lehrer: das ist ‚X’, er zeigt aber ‚Y’. Ich habe meinen Lehrern vertraut und solche Widersprüche auf mein eigenes mangelndes Verständnis zurückgeführt. Nun sehe ich, dass ich doch nicht so falsch liege.“

Was meinst du mit X und Y – sicher nicht Mathematik oder Physik?

„Ich versuche mal einen typischen Bewegungsablauf etwas überspitzt zu beschreiben. Auf einen Angriff folgen verschiedene Drehungen, den Abschluss der Bewegungsfolge bildet eine Technik. Kein Angreifer hat soviel Angriffschwung, dass er sich dreimal umlenken lässt, er blockiert in der ersten oder spätestens in der zweiten Umlenkphase. Deshalb muss Uke an Nages Hüfte fixiert und unter Einsatz von Nages Masse wieder beschleunigt werden. Das wird bei uns ‚Führung’ genannt. Die dafür benötigte Kraft wird ‚starkes Zentrum’, ‚starke Führung’ oder ‚starkes Ki’ genannt. Ki ist für mich schon fast ein Reizthema. Es hilft offenbar gegen alles, von Shomen-uchi bis Fußpilz. Oder noch besser: Mit Ki kann man sogar die Zukunft voraussagen.“
Michael blättert in einer älteren Ausgabe des AJ – „Ich Zitiere“:

„... zu dieser Zeit sprachen die Leute mit Nakazano Sensei viel über das Ki, Im Grunde sprachen sie über viele Dinge, die sie nicht verstanden ...
Christian Tissier, Aikidojournal 1/2005“
„Solche Erklärungen helfen mir nicht weiter und ich kann das meinen Schülern so nicht vermitteln.
‚Kontakt’ und ‚Kontrolle der Mitte’ sind für mich wesentliche Inhalte für ein ganzheitliches Aikido.“

Warum drehst du dich nicht um und gehst? Ich kann mich, aber nicht die Welt ändern?

„Es gibt viele sympathische Menschen im DAB und es gab und gibt auch positive Entwicklungen. Unsere Mitglieder der Technischen Kommission bemühen sich die Prüfungsordnungen sinnvoll zu überarbeiten. Sie haben einige unsinnige Techniken gestrichen, die Bodentechniken wieder in die richtige numerische Reihenfolge gebracht …“
(Er macht eine längere Pause)
„Daran erkenne ich, dass sie wirklich etwas verbessern wollen.
Jedenfalls: Demokratischer als heute war der DAB noch nie.

Es ist jedoch schwierig, wenn dein ganzes Umfeld anders denkt als du selbst. So kommt es zu Selbstzweifeln.

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