Xavier Raphael

… wir trafen uns im Judō-Dōjō von Heidelberg.


Xaxier währes des Interviews in Heidelberg.

XR: … ja, es ist in Frankreich nicht korrekt, wenn man sagt, was man denkt – das ist politisch nicht korrekt. Schau dir Philippe [Gouttard] an – er ist eher ein ruhiger, stiller Mensch … oft ist er dann provozierend, was meistens total falsch verstanden wird. Hast du Philippe bei Asai kennengelernt?

… nein, das Interview mit Philippe habe ich vor mindestens 2 Jahren in Meylan/Grenoble gemacht. Bei Asai habe ich Philippe letztes Jahr, zum 50-jährigen Jubiläum von Meister Asai, in Münster wieder gesehen … vorher nur in Frankreich, bei großen Stages … Er ist unprätentiös, nicht wie ein Großteil aus der 2F3A – er spielt nicht den Meister …

Ja, das stimmt. Wahrscheinlich ist das auch der Grund weshalb er nicht die Rolle des „Schwarzen Peter“ einnehmen muss, in der 2F3A … Wie gesagt er wird falsch verstanden – er weiß sehr genau was er macht – deshalb wird er katalogisiert … Das passt irgendwie nach Frankreich : PC [political correctness] – und dann ab in den Katalog. Obwohl die Meinungsfreiheit ja eigentlich in Frankreich »Groß« geschrieben wird …

… die Kehrseite der Medaille – ich habe 1994 mit der deutschen Version des AJ begonnen. Acht Jahre später dann mit der französischen Version … Ich machte in den 90ern  ein Interview mit einem Freund von Christian Tissier … da stand nichts Negatives, nichts Böses oder dgl. drin. Aber die Reaktion der friedliebenden Aikidoka – »wie kann man nur so etwas schreiben, das darf man nicht« … Ich war sprachlos, noch heute weiß ich nicht von was da gesprochen wurde.

Ja, ja das ist wirklich so – ich möchte das auf Französisch sagen: »le chien garde« [die Wachhunde]. Aber ich beobachte das auch in Deutschland – obwohl sich das Klima wesentlich gebessert hat. Es gab Jahre, da war eine Kommunikation, zum Beispiel unter Verbänden, fast unmöglich. Wenn du ungeahnt sagtest, ich gehöre da und da zu, dann warst du schon im Katalog. Meistens nonverbal kommuniziert – aber du wurdest beäugt … durch diese Verhaltensweise ist die Neugierde, die im Aikido so wichtig ist, unterdrückt worden. Das ist traurig.
Philippe erzählte mir, dass er bei allen Meistern war – er fuhr dorthin, wo es möglich war – das machten damals alle. Man fuhr quer durch Frankreich um einen Meister zusehen. Wer macht das heutzutage noch …?

… es gibt allerdings auch ein zu großes Angebot an Stages …

… es ist eine traurige Entwicklung.

Wann bist du nach Deutschland gekommen?

2002. Ich lernte meine spätere Frau 2000 auf einem Stage mit Christian Tissier kennen. Nach zwei Jahren Fernbeziehung habe ich die Entscheidung getroffen nach Deutschland zu übersiedeln …

… war das beruflich kein Problem, hier fußzufassen?

… es war ein emotionaler Spagat – ich war damals schon als Aikidoka etabliert, ich unterrichtete bereits in Tournon in der Ardèche …
Du bist in der Süd-Ardèche, neh?

Bas-Ardèche, Joyeuse.
Ahh Joyeuse, ja.

Ja, ich unterrichtete auch in La Chapelle-en-Vercors im Vercors, das war im Sommer okay, doch im Winter oft mehr als ein Abenteuer …  aber eine sehr schöne Landschaft!

Es ist auch eine Lebenserfahrung, dass man 70km Fahrt auf sich nimmt für fünf oder sechs Leute auf der Matte … ich meine, dass es mir etwas gebracht hat, eine solche Erfahrung gemacht zu haben.
Dann habe ich fünf Jahre, bis 2007, in Mainz gelebt. 2005 haben mich die Leute aus Heidelberg zwei Mal eingeladen – es gab ein kleines Dojo in Schwetzingen … So haben Stefan Bökler und Simone Walsch, die treibend in ihrer Gruppe waren, entschieden, mich als ihren Lehrer zu holen – sie fragten mich während eines Stage von Jean-Luc Sibileau in Frankfurt … – »warum nicht, gerne« sagte ich …  so bin ich in Heidelberg gelandet.

… dann seid ihr von Mainz nach Heidelberg gezogen …

Ich bin alleine hierher gezogen, weil es mit meiner Frau nicht so funktionierte. Wir haben uns scheiden lassen und 2007 bin ich umgezogen. Damals war die Gruppe ziemlich klein – es waren sieben Leute auf der Matte … es war aber ein stetiges Wachstum zu beobachten und wir haben 2016 die magische Zahl von 50 überschritten. Im Herbst  2007 habe ich auch eine zweite Gruppe in Mannheim aufgebaut. Wir hatten in Mannheim verschiedene Übungsräume und sind mehrfach umgezogen – jetzt haben wir eine Kooperation mit der Uni Mannheim – das birgt natürlich eine hohe Fluktuation. Zu Semesterbeginn ist die Halle voll und ab Mitte der Semester sinkt die Teilnehmerzahl – so ist der Lauf an den Unis …

… lebst du vom Aikido?

Ja, hauptsächlich. Ich habe aber auch einen Nebenjob, in dem ich als Schloss-Führer tätig bin. Vor fünf Jahren habe ich die Ausbildung des Schloss-Führers für Heidelberg, Schwetzigen und Mannheim gemacht. Mit diesen beiden Jobs kombiniere ich mein Leben. Es ist schwierig.

… aber durch die Schlossführung hast du doch sicherlich eine rentengestützte Anstellung.

(Lacht auf) … tja, sollte! Leider nein, nur bei Bedarf werde ich gerufen … Ich kämpfe mehr als das ich lebe – Heidelberg ist eine der teuersten Städte Deutschlands … Alles ist variabel … Ich versuche mein Bestes daraus zu machen – c’est la vie.

… wenn man das nicht getan hätte, was sich einem angeboten hat, dann wäre man nicht das, was man ist. Man kann sich nicht immer auf Sicherheiten berufen – das ist eine Illusion. Sicherheit ist eine schöne Sache, als Selbständiger darfst du nicht krank sein – so einfach ist das …  Entschuldige ich habe dir das Wort abgeschnitten.

Ja, es ist eine Frage der Persönlichkeit. Als ich mich von meiner Frau trennte, habe ich versucht mir über meine Lebenssituation klar zu werden. Mein Vater war selbständiger Architekt, mein Großvater und mein Urgroßvater waren alle selbständig. Wir haben nicht die Gewohnheit von 8 bis 18Uhr in die Fabrik zugehen. Von daher ist es auch kein Wunder, dass ich so bin, wie ich jetzt bin. Als ich das verstanden habe, habe ich mich akzeptieren können, so wie ich bin. Okay, es ist so, machen wir das Beste daraus.

Seit dem bin ich auch wieder Student – habe, in die Jahre gekommen, wieder mit dem Studium begonnen. Es macht mir viel Freude – wie damals beim Aikido wusste ich, »das ist mein Ding«.
Ich habe mit 18 Jahren begonnen, aber ich merkte relativ schnell, »das ist es und ich werde irgendwann auch unterrichten« – zwar wusste ich nicht wie, aber das Ziel lag vor mir … So war es auch als ich nun mit dem Studium der Kunstgeschichte begann, da spürte ich, das ist das Richtige für mich. Die Entscheidung ist richtig gewesen – du siehst, ich bin optimistisch.

… mit 18 Jahren hast du mit Aikido …

… das war in Chambéry, 1989 während meines ersten Studiums – ich hatte einen alten Lehrer, Jean Desboeufs, er war Judo- und Aikidoka. Ein Pionier in der Region Rhône-Alpes. Er war schon über 70, er konnte nicht mehr knien – aber es war interessant, diese Generation auf der Matte zu sehen, da war noch ein anderer Esprit. Er war eine Persönlichkeit – eine Ausstrahlung als Mensch. Es hat mich angezogen.

Ich erinnere mich immer wieder an die erste Situation – ich kam zum Training, denn ich wollte eine Erklärung für etwas, was ich nicht verstanden hatte – in einem Café hatte ich ein Plakat für dieses Aikido-Training gesehen. So schaute ich mir das an und sagte zu mir, nee das ist ja schrecklich, ich gehe besser wieder – es war das Training des Ju-Jutsu. (lacht auf) Dann kam der alte Kerl mit dem komischen Rock. Ich fragte ihn, »welchen Dan haben Sie«? Ich habe nie eine Antwort erhalten. (Xavier muss lachen) Er hat mich nur angeschaut.
Ich habe sofort verstanden, dass ich in das erste Fettnäpfchen getreten bin …

Das scheint heutzutage kein Fettnäpfchen mehr zu sein, man sieht nur noch Ausschreibungen mit: 5. Dan, 6. Dan, Aikikai, Sensei, Shihan, 7. Dan, BE2 … Was erhofft man sich davon?

Wir haben eine Seminarliste auf der Webseite des AJ – Jahrelang haben wir den Eintrag von Zahlen in den Namensfeldern unterdrückt, besonders Clevere haben das dann mit römischen Zahlen umgangen … Durch die quantitative Denkensweise hat der Mensch ein großes Darstellungsbedürfnis. 

Ja, ich will keine Zahl, sondern den Menschen mit seinem Aikido kennenlernen.
Ich verstehe den Marketing Gedanken dahinter – jeder versucht, sich so gut wie er kann, zu profilieren. Aber ich empfinde, dass es eine schlechte Konsequenz hat.

Ich habe das noch nie so ausgeschrieben – auch Philippe schreibt nur: Philippe Gouttard.

Er sagte im Interview, er wird nie den 7. Dan erhalten wie die »anderen Shihans« in der 2F3A, er sei nun mal das »enfant terrible«.

… obwohl, er hat den 7. Dan, den Shihan-Titel, nun erhalten. Er hat mir anvertraut, es ist schön für das Papier und schön für die Schüler. Vielleicht auch für das Dojo – aber es verändert sich nichts an seinem Aikido oder seinem Charakter …

…er hat das auch nicht nötig, ich war schon einige Mal in Sète zu seinem Sommerstage, diese große Halle ist immer gut gefüllt.

Mir hat Philippe sehr viel gebracht. Ich wäre nicht da wo ich jetzt bin, wenn er mich nicht auf seine Art unterstützt hätte. Er hat mir immer Mut gemacht, wenn ich am Zweifeln war – das ist mir ein wertvoller Beweis. Er ist warmherzig und gibt sehr viel von seiner Person. Eine großzügige Persönlichkeit.

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