Interview mit Rüdiger Keller aus Bremen. AJ N° 54D Teil1

Dieses Gespräch fand in Ohlenstedt, nahe Bremen, in einem alten Bauernhaus, umgeben von verträumter ländlicher Struktur statt.

R. Keller in seinem Bauernhaus, in Ohlenstedt, 2008.
R. Keller in seinem Bauernhaus, in Ohlenstedt, 2008.

Rüdiger, wann hast Du mit Aikido begonnen?

Als Vierzehnjähriger begann ich, das war 1965. Vorher, mit acht Jahren, fing ich an, Judo zu praktizieren. Wir lebten in Holstein, dort hat mein Vater in den Fünfzigern einen Judoverein gegründet. So konnten mein Bruder und ich schon damals regelmäßig trainieren.

In der Zeit kam Aikido hier in Deutschland erst auf. Mein Vater hatte zu Eugen Hölzel in Hamburg Kontakt, der hatte – das muss man sich mal unter heutigen Gesichtspunkten versuchen vorzustellen – irgendwo einen Aikidolehrgang besucht, und hat dann gleich selbst einen Aikidolehrgang in Hamburg organisiert. So kam unser erster Aikidokontakt zustande, der uns aber auch sofort in Euphorie versetzte. So gelang es meinem Vater, einen Kanai »auszugraben« – nicht den Kanai aus den USA! Kanai ist eben ein Meier-, Müller-Name. Dieser kam zwei Mal zu einem Lehrgang zu uns, und dann war da noch ein Japaner, sein Name fällt mir nicht mehr ein, bei einem Lehrgang mit uns. Es kam öfter vor, dass Japaner, Kaufleute, von ihren Firmen zum Beispiel nach Deutschland geschickt wurden oder an die Sporthochschule nach Köln, die schon Aikido in Japan trainiert hatten, und dieses dann in Deutschland zeigen konnten. Dann kam irgendwann Asai, und er hat gleich bei uns einen Lehrgang gegeben. Das wurde dann zu einer Regelmäßigkeit, denn am Anfang gab es Aikido ja nur in wenigen Orten, wie Münster, Osnabrück, dann Elmshorn und Hamburg,. Dort hat dann auch Gerhard Walter angefangen. Ja, so kam ich mit vierzehn Jahren zum Aikido.

Das war wie ein Höhenflug, wie eine Befreiung – denn bis dato war es im Judo sehr mühselig; so etwas wie Kindergruppen gab es damals noch nicht, da war man als leichtgewichtiges Kind »Opfer«. Man wurde von allen »in die Matte gehauen«.

Jetzt im Aikido, das »ukemi«, die uke/tori-Beziehung… himmlisch – obwohl man das mit 14 noch nicht verstehen kann, da fehlt das Bewusstsein – selbst mit 25 ist das noch nicht möglich.

Ich sehe das an meinem Bruder, der die ganzen Jahre auf der Judoschiene blieb. Dass es über die Jahre interessant geblieben ist, dass er sich aus seiner persönlichen Sicht überhaupt entwickelt hat!?

Ich zum Beispiel war erst Kaufmann, dies gefiel mir überhaupt nicht. So habe ich eine Ausbildung als Physiotherapeut in der Annahme gemacht, das Aikido mit dorthinein übernehmen zu können. Das hat sich zwar nicht bewahrheitet, weil man das Technische nicht mit hinübernehmen kann, aber andere Aspekte aus dem Aikido, Körperverständnis und Wachheit/Aufmerksamkeit, passen schon sehr gut dort hinein.

Beim Shiatsu fand ich dann auch den Aspekt des »ki« wieder, der dort ebenfalls eine fundamentale Rolle spielt. Das zentrierte »bei sich und beim anderen sein können« entwickelt sich so sehr stark. Die Patienten spüren so etwas auch sofort, wenn sie es auch anders ausdrücken, oder gar nicht unbedingt verstehen, was da geschieht.

Die »Alten« fuhren, um trainieren zu können, oft viele, viele Kilometer zu Lehrgängen, weil Aikido noch nicht so verbreitet war. Die haben nicht nur viel trainiert, sondern auch noch sehr hart trainiert – so nach japanischer Art –, was ich heute meinen Leuten gar nicht mehr zumuten darf, ja auch nicht will. Abgesehen davon, dass ich diese Trainingsmethode: »gelobt sei, was hart macht«, im Kontext des Aikido nicht einleuchtend empfinde, ja sie ist in meinen Augen auch kontraproduktiv.
Ich mache etwas, ich empfinde etwas, ich nehme mich selbst darin wahr – ich finde etwas. Diese Entwicklung, wie Gerhard Walter sagt, sich in der natürlichen Bewegung zu erleben, die bringt mich weiter, nicht Technik oder Härte. Nicht umsonst hat O Sensei sich in seinen letzen Jahrzehnten immer weiter in das Spirituelle vertieft, das ist letztlich die Entwicklungsrichtung.

Wie unterscheidet sich aber die Entwicklung im Vergleich mit den Judokas, das war glaube ich der Gedankenansatz?

Das Phänomen der Energie und der bewusste Umgang mit ihr. Die Mühelosigkeit zum Beispiel. Oder wie sich z.B. in der Beziehung zwischen uke und tori der Aspekt Zeit relativiert. Einem Anfänger erscheint ein Angriff schnell, er lässt ihm keine Zeit, sich zu koordinieren. Der Erfahrene dagegen, der kann sich das in aller Ruhe anschauen, er hat einen großen Zeitraum, in dem er sich nicht bewegen muss.Er kann dann den rechten Zeitpunkt mühelos bestimmen. Die Ruhe ist offensichtlich die Voraussetzung, dass du so agieren kannst. Je länger du trainierst, desto tiefer kann diese Ruhe werden.

Diese »Kampfkunstgeschichte« ist für mich nur ein Plakat. Aikido hat viel mehr Tiefe, es ist eher eine Beziehung, als das was wir normalerweise unter Kampf verstehen.

Wir verwenden viele Worte, wie zum Beispiel Harmonie. Diese erlebst du aber eigentlich erst, wenn du als »Ganzes« auf einen Angriff reagieren musst: erst mit der Erfahrung der Jahre kannst du mit einem Angriff verschmelzen, das wäre z.B. Harmonie. Aber auch hier sehe ich nur Stufen, Stufen der Entwicklung. Deshalb sind auch die Diskussionen um Techniken oder Effektivität von Techniken, um richtig und falsch etc., nicht wirklich wichtig – Technik ist Vehikel.

Das Unterrichten hat für mich meist nichts mit Vorplanung zu tun. Ich mache die Vorübungen, und, ja ich kann es eigentlich gar nicht genau beschreiben, eher aus einem Gefühl heraus, aus einer gefühlten Notwendigkeit fahre ich fort, daran »hängen« dann die Techniken. Sie sind ein Mittel zum Zweck, um das zu erreichen, was ich will – was ich im Zusammenhang mit den Schülern auf der Matte entwickle.
Einige Lehrer sind bereits von diesem Flaggschiff »Kampfkunst« weg und haben andere Sachen entwickelt, der bekannteste dürfte wohl Noro sein. Die Techniken sind natürlich noch notwendig, um daran zu üben. Sprachlich wird das martialische oft noch verwandt, aber Kampfkunst ist eine innere Haltung – immer in einer inneren Übung zu sein.

In der Entwicklung spielt die fehlende Konzentration uns oft einen großen Streich. Wenn man auf einem Lehrgang oder in einer Übungsstunde filmt, sieht man häufig, dass die Übungen immer wieder abgebrochen werden, um dann wieder begonnen und dann wieder abgebrochen zu werden – so als wäre laufend etwas vergessen worden. Es ist der Mangel an Aufmerksamkeit, und es scheint ungeheuer schwierig, selbst nur für Sekunden die Konzentration aufrecht zu erhalten. Wohl deshalb ist gerade Aikido eine wunderbare Übungsform, weil Feinheiten, die »eigentlichen Inhalte«, geübt werden.

Als Physiotherapeut darf ich dir sagen, dass es Muskeln gibt, die, wenn man verletzt ist, sich innerhalb von Stunden abbauen, und es dauert später unverhältnismässig lange, bis sie überhaupt nur wieder einen Ansatz von Kontraktionsfähigkeit zeigen. Das betrifft alle Muskeln, die unsere Statik d.h. die Stellung im Raum regeln.

Als ich noch in der Ausbildung war, hat man trotz mancher physiotherapeutischer Kenntnisse, wie Rezeptoren und Stabilisierungsgeschichten, auf Kräftigung d.h. willkürliche Anspannung gesetzt. Heute benennt man die Komplexität nicht nur mit einem Begriff wie Ganzheitlichkeit, sondern man versucht auch die Behandlung so aufzubauen – aufgrund z.B. der vorgenannten Erkenntnis ganz anders. Und hier sehen wir Aikido, das eben nicht nur mit einfacher physischer Kraft arbeitet, sondern etwas mit Stabilität und Raum zu tun hat – die kann man nicht mit willkürlicher Kraft erreichen, hier bedarf es eines ganz anderen Verständnisses, ganz anderer Feinheiten .

Wenn ich jetzt etwas über Aikido schreiben müsste, dann hätte ich ganz große Schwierigkeiten, denn ich wüsste nicht, wie ich das, was ich im Augenblick sehe, benennen sollte – so dass ich zufrieden wäre – es ist zu komplex.

Als ich mir Gedanken über meinen Berufsweg machte, sollte er natürlich an einen Ort führen, an dem ich auch Aikido weiter machen konnte. Berlin bot sich an, weil Gerhard Walter, den ich nun schon von Hamburg her kannte, dorthin gegangen war. Zeitlich waren wir Weggefährten, nur war ich viel jünger – was natürlich bezüglich Wissen und Bewusstsein viel ausmacht.
Berlin war natürlich ein irre Zeit – sehr alternativ, die Mauer stand noch, Wohnen in Fabriketagen… Man mietete einfach etwas an, ohne schon zu wissen, was man damit anfangen würde. Wir lebten in 800 m2 großen Räumen, jemand kam auf die Idee: »Mensch Gerd, lass uns hier ein Dojo bauen!« Ich habe noch am Dojo mitgebaut. Man darf es eigentlich nicht sagen und schon gar nicht schreiben, wo der Unterbau für die Matten herkam, in einer Nacht- und Nebelaktion, direkt weg vom Gefängnis Moabit über einen Transporter ins Dojo … Ingo Beardi und Horst Späthling haben in jener Zeit da angefangen; ja Weggefährten…

Dann kam Yamaguchi oft nach Deutschland, eingeladen durch jemanden aus Mannheim. Er war sehr prägend für viele von uns, nicht nur weil er einen anderen Stil zeigte. Ich hatte vorher natürlich Asai erlebt, aber vor allem auch Tada in Rom, oder Noro (bevor er sein Kinomichi entwickelte). Noro war der Ästhet im Aikido, mit seinen großen Bewegungen, einfach faszinierend. Nein, Yamaguchi zeigte die Leichtigkeit, ja fast eine »Nichttechnik war seine Technik«. Bei ihm sah man, dass es nicht die Technik war, sondern die Entspanntheit in seiner Bewegung – in der er aber jeder Zeit »explodieren« konnte. Wenn er nach Deutschland kam, war es das Event im Jahr. Anfänger konnten allerdings wenig mit seiner Art des Aikido anfangen.

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