Blaize Gérard aus Paris, Teil 2 - AJ 79DE


Gérard Blaize nach dem Freitag-Vormittag-Training

Das Gespräch fand 2008 in Paris, in der Rue Petit Hotel, statt – im alten Dojo von Noro Sensei.
Jakob Spälti, ein Schüler von Gérard und langjähriger Leser des AJ, hat dieses Interview übersetzt …


 


Um auf Ihre Anfänge zurückzukommen: Erinnern Sie sich, wie Sie mit Aikido angefangen haben?

Das war im Jahr 1963. Noro Sensei brachte mich dazu. Das war sehr merkwürdig. Zu dieser Zeit war ich in Toulouse, und es gab da keine Kurse speziell für Aikido. Die Judolehrer unterrichteten Aikido. Ich hatte mit Judo begonnen, und dann gab es einen Stage mit einem japanischen Meister. Ich schaue zu, es war hübsch, es war schön. Er trug einen weißen Hakama, und es waren schöne Bewegungen. Ich fragte, was das sei. „Das ist Aikido“, war die Antwort. Darauf sagte ich, dass ich das lernen wolle. Mein Judolehrer sagte: „Du kannst Aikido trainieren, aber du machst mit Judo weiter.“ Und da ich bei ihm geblieben bin, trainierte ich sowohl Aikido als auch Judo, ein wenig Karate auch, weil ich mit einem Schüler befreundet war, der auch Karate-Lehrer war. Später verließ ich Toulouse, um zu studieren, hörte mit Judo und Karate auf, fuhr aber mit Aikido fort. Später kam ich wegen des Berufs nach Paris zurück. Ich war schon Aikido-Lehrer, denn es hatte in der Auvergne, als ich dort war, noch kein Aikido. Also hatte ich Noro Sensei gefragt, ob ich unterrichten dürfe, obschon ich erst 1. Dan war. Er bejahte meine Frage und kam sogar nach Clermont-Ferrand, um einen Stage zu leiten.
In Paris hatte Noro Sensei zu dieser Zeit mit Aikido aufgehört und unterrichtete Kinomichi. Nakazono Sensei war in die USA weggezogen. Es gab niemanden mehr in Paris. Tamura war in Marseille. Ich unterrichtete Aikido. Ich war damals 3. Dan, aber ich wollte nicht mehr unterrichten. Ich kannte Christian Tissier gut, der in Japan war. Und da ich, wenn er in Paris war, sah, wie er Fortschritte machte, sagte ich mir, dass ich auch nach Japan gehen sollte. Aber weil ich Beamter war, musste ich für zwei Jahre unbezahlten Urlaub nehmen. Mein erster Antrag wurde abgewiesen, worauf ich mich nach Marseille versetzen ließ. Ich wollte nicht mehr unterrichten, ich wollte Schüler sein, und weil Tamura Sensei in Marseille war, ging ich dorthin. Und gerade zu dieser Zeit wurde mein Gesuch angenommen. Ich blieb vom September bis Januar noch in Marseille und reiste im Februar 1976 nach Japan. Und da ich nach dem Ablauf meines Urlaubs nicht zurückkehrte, wechselte ich meinen Beruf. Als ich 1981 nach fünfeinhalb Jahren in Japan zurückkehrte, entschied ich mich Aikido als Beruf auszuüben.
Zunächst hatte ich nur für zwei Jahre nach Japan gehen wollen, weil ich wieder Schüler sein wollte. Ich hatte schon sehr früh Aikido unterrichtet, weil es keine andere Lösung gegeben hatte; es gab keinen anderen Lehrer zu dieser Zeit. Ich reiste nach Japan und begegnete Hikitsuchi Sensei, der mein Lehrer wurde – dank Peter Shapiro, den Sie schon interviewt haben. Ich wurde schwerwiegend an einem Halswirbel verletzt und wurde von Peter geheilt. Auf diese Weise lernte ich Seitai und Katsugen-Undo kennen. Ich ging im Sommer nach Shingu. Zu dieser Zeit waren die Meister Kishomaru Ueshiba, Osawa, Yamaguchi 8. oder 9. Dan am Hombu-Dojo, Meister Hikitsuchi war 10. Dan. Für mich waren sie alle sehr hoch gradiert. Die Beziehung zu Shingu entstand nicht sofort. Es war Peter, der mir sagte, ich solle dort trainieren gehen. Dann begann ich bei Meister Hikitsuchi, der mir Privatstunden gab, weil ich nicht in Shingu wohnte. Peter war mein Übersetzer.
Und dann, eines Tages, ereignete sich etwas Befremdliches. Etwas kam aus dem Bauch von Hikitsuchi Sensei und berührte meinen Bauch, und ich sagte mir: „Ah! Ich habe meinen Meister gefunden!“ Seither trainierte ich gründlich mit ihm. Peter war mein Mentor. Er blieb mehr als achtzehn Jahre in Shingu.

Als ich nach Frankreich zurückkehrte, wurde Aikido mein Beruf, und ich lud Hikitsuchi Sensei zehnmal nach Europa ein. Er kam nach Frankreich, Spanien, Finnland. Und jetzt, da er gestorben ist, fahre ich fort.
In Japan trainierte ich auch in der Waffenschule Shindo-Muso-Ryu bei Meister Matusmura.

War das Aikido von Hikitsuchi Sensei stark verschieden von dem der anderen Meister?

Nein, nicht sehr verschieden.

Er war ziemlich groß.

Nein, er war klein, etwa gleich groß wie ich. Er wirkte allerdings auf den Fotos groß. Wenn er einen Hakama trug, hätte man sagen können, er sei 1.80 m groß. Der Eindruck, den er machte, war je nach Kleidung verschieden. Wenn man ihn mit Anzug und Krawatte sah, hätte man ihn für einen kleinen Alten halten können. Auf den Matten dagegen hätte man meinen können, er wiege 80 kg. Wenn man schaute, was Tamura Sensei machte: Sein Aikido war nicht sehr verschieden. Er hatte die gleichen Grundlagen. Er begann als Erster, er schaute den Partner nicht an, und man konnte ihn nicht mit einem Atemi treffen, wenn er die Technik machte.
Wenn Meister Hikitsuchi nach Frankreich kam, unterrichtete er mit großer Genauigkeit, und er brachte uns bei, wie wir trainieren müssen, um uns alle diese Prinzipien anzueignen.
Denn das ist das Problem: Wen Sie den Leuten nicht sagen, wie sie etwas machen müssen, welcher Rahmen nötig ist, um trainieren zu können … Es ist gar nicht logisch. Gut, es ist leicht, jemandem zu sagen: „Er greift dich an, du verteidigst dich, du verwendest seine Kraft.“ Das versteht man gut. Es bedeutet zwar nichts, aber man ist zufrieden. Aber zu sagen: „Man muss als Erster beginnen, bevor er angreift“, – was bedeutet das? Hikitsuchi Sensei hatte also einen Rahmen gegeben. Man setzte sich zum Beispiel sehr nahe einander gegenüber, und vor dem Shomen stach man mit den Fingern zwischen die beiden Augen. Man war sich bewusst, dass man, indem man es so machte, mit der Zeit den andern führen konnte. Man sagte sich also, dass es tatsächlich etwas anderes gibt als die Logik der Selbstverteidigung, der physischen Kraft und so weiter.
Hikitsuchi Sensei sprach auch oft von Osensei, und dadurch begann ich mich auch für den Begründer des Aikido zu interessieren. Er sprach nämlich fast ohne Unterlass von ihm. Er betete auch. Er sagte uns: „Das ist die Botschaft von Osensei.“ Aber anstatt ständig „Osensei, Osensei“ zu hören und vor dem Altar zu beten, interessierte ich mich für den Begründer des Aikido. Es handelt sich nicht um etwas, das sich einfach so ergibt. Es ist eine Arbeit. Wenn Sie mir schon vor sechs Monaten Fragen zum Kototama gestellt hätten, hätte ich Ihnen nicht auf gleiche Weise geantwortet, denn bei mir entsteht alles durch Erfahrung, auf den Matten. Das heißt: Ich experimentiere, und die daraus gewonnene Erfahrung erlaubt mir, zu sagen: „Ich habe das gespürt, also denke ich das.“ Das also ist die Richtung meiner Arbeit, und das alles beruht auf Körpererfahrungen.
Einer der großen Unterschiede zwischen den andern Lehrern und mir ist, dass für mich die Techniken des Aikido ein Werkzeug  sind, das dazu dient, herauszufinden, was Aikido ist. Denn man kann durchaus sagen, dass gegenwärtig, außer Osensei, noch niemand herausgefunden hat, was Aikido ist. Dank den Texten von „Takemusu Aiki“ haben wir tatsächlich Erklärungen des Begründers zu seiner Kunst. Man kann mit ihnen einverstanden sein oder nicht (das ist etwas anderes). Man kann ohne weiteres sagen, das sei dumm, habe keinen Sinn …
Die einzige Schwierigkeit – und darum ist das Trainieren so schwierig – besteht darin, dass Osensei immer auf Gottheiten verwies. Das heißt: Immer, bei jeder Erklärung erwähnt er eine Gottheit. Und er spricht von den Gottheiten, wie wenn sie unter uns wären. Er sagt zum Beispiel, dass die Gottheit des Windes in seinem Bauch und in seinen Adern sei, und sie sagt ihm: „Ueshiba, ich bin in deinen Adern. Was machst du jetzt?“ Das ist schon sehr überraschend –


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