Kurt Bartholet

Er würde schon lange keine Aikido mehr praktizieren, wenn da nichtdie persönlichen und beruflichen Erfahrungen als Psycho- und Körpertherapeut wären.


Kurt Bartholet 2008 während des Interviews in Zürich.

Liechtenstein und Zürich, da denke ich eher an das Bankenwesen als an Aikido. Wie kommt es Herr Kurt Bartholet, dass auf der Homepage Ihres Vereins eine Zürich-Liechtensteiner Verbindung angezeigt wird?

„Die Verbindung kam über Endo Sensei zustande. Eine Gruppe um Dietmar Näscher hat sich in Liechtenstein für eine Zusammenarbeit mit Endo Sensei entschieden und da ich selbst vor 10 Jahren zu Endo Sensei wechselte, war es naheliegend, mich aus geographischen Gründen zu einer Zusammenarbeit mit dem Liechtensteiner Verband zu entscheiden.

Als technischer Leiter des Verbandes bin ich für die Erhaltung und Garantie des technischen Fundaments gemäß den Hombu Richtlinien verantwortlich, somit auch für die Integration von Neuerungen. Diese Aufgabe ist eine Herausforderung und geht nicht ohne gewisse Konfliktpunkte mit all den unterschiedlichen Vereinen einher. Doch gerade das ist eine gute Basis, um zu improvisieren und dem Prozess, der gerade im Aikido stattfinden soll, gerecht werden.“
Kurt Bartholet würde schon lange kein Aikido mehr praktizieren, wenn da nicht die persönlichen und beruflichen Erfahrungen als Psycho- und Körpertherapeut wären. Aufgrund dieser Ausbildungen und den Einblicken, die die aktuelle Neuropsychologie ermöglicht, sieht er im Aikido und dessen „Bewegungen“ meh, als das ständige Wiederholen von Techniken. Die Reflektion über die Bewegungsdynamik im Aikido, ermöglicht eine Reflektion der inneren Prozesse und führt schliesslich zu einem anderen Bewegungsverständnis.

Innere Prozesse werden über Bewegung kognitiv verständlich und ermöglichen, die Entwicklung der Persönlichkeit gesamtheitlich zu fördern.
Der Körper kann sich an muskulären Bewegungsabläufen über die Technik orientieren, an Stärke, die rein physisch, rein muskulär ist.
Er kann sich aber gleichzeitig auch an den inneren Prozessen orientieren, an den mikromuskulären Prozessen die hin zu einem anderen Bewusstsein führen, was Bartholet besonders interessiert. „Die Begrenzung auf Technik und Bewegungsabläufen berührt mich doch eher kritisch“, sagt er.
„So erklärt sich vielleicht auch, warum mich Endo Sensei mit seinem phänomenologischen [dem stufenweise Herausbilden des Bewusstseins] Ansatz, fasziniert. In diesem Prozess gestaltet sich die Dualität von Yin und Yang immer wieder neu, so wie beim Takemusu die Technik sich immer wieder neu gebären muss. So wie in einer lebendigen Beziehung oder wie das, was gerade in unserem Gespräch abläuft: Es ist das Gefühl für den Fluss. Es ist der lebendige Prozess den ich immer wieder suchen muss – in dem ich nachvollziehen und verstehen kann was die Bewegung auflöst wenn ich in meinem Bewusstsein offen bin.“

Seit einigen Jahren arbeitet Kurt Bartholet mit Sven Stecher zusammen, der Aikido in den Trainings- und Schulungsbereich gebracht hat. Dies vor allem mit dem Hintergrund, interaktive Dynamiken über Bewegung in einen lebendigen Lernprozess zu bringen..„In diesem neuen Trainingsbereich „AikiCom“ musste ich mich zuerst vom dem konservativen Technik –Denken befreien und konnte so über Prozessarbeit viel lernen.“

„Es gab und gibt im Aikido immer Ausrichtungen, in denen die Technik weniger wichtig ist; für andere hingegen ist Technik und Stil ein festes Dogma, das all zu oft zu Konflikten führt. O’Sensei sagte in seinen Schriften, die Technik entscheide sich in einem einzigen Augenblick; sie entscheide sich schon vor dem Ausführen. Meiner Meinung nach sprach er hier von einer anderen Bewusstseinsebene.“

„Dieses erweiterte Bewusstsein, dieses ‚Moment in der Begegnung’, dieses ‚tiefere Verstehen’, ließen mich erneut an die Methode Aikido glauben und vertieft suchen.

In Seminaren für Führungskräfte arbeite ich oft mit Managementberatern und Neuropsychologen zusammen. Konkret heißt das: Ich bringe die Teilnehmer in eine Interaktion durch Bewegungsdynamik und die Fachpersonen wiederum übersetzen und erklären, was sich bewusstseinsmäßig auf der mikromuskulären Ebene bewegt und wie wir über Bewegung und Rhythmus zu Informationen über uns selbst kommen. Diese komplexen Zusammenhänge sind unglaublich spannend – Aikido hat in diesem Prozess vielmehr zu bieten als allein das sture Üben von Techniken bis zur Perfektion. Aikido ist kein Sport, es ist eine Kampfkunst, die in der Selbstverteidigung gerade auch den eigenen Prozess mit einbezieht; dabei beinhaltet es für mich viele therapeutische Aspekte.
Aikido bietet dieses Potenzial aber auch auf der interkulturellen Ebene, weil es Menschen aus verschiedenen Kulturen und Sprachen eine gemeinsame, sprich die körperliche, Ebene anbietet.
Es ist die physische Begegnung, die eine authentische Begegnung ermöglicht. Diese Erfahrung mache ich immer wieder auf meinen Aikido Lehrgängen in Israel, Jordanien, Syrien und auch mit Flüchtlingen aus dem Irak.“
Seit einigen Jahre organisiert Kurt Bartholet mit Aikido Zürich ein „Summer Camp Training across the border“ in Zürich, wo Menschen aus Konfliktländern, wie aus dem Nahen Osten, Irak, Palästina etc. eingeladen werden.

Kurt Bartholet musste sich aber eingestehen, dass er sich am Anfang ziemlich unvoreingenommen in das Projekt gestürzt hatte und feststellen musste, dass die uns bekannten Formen der Konfliktbewältigung nicht so einfach greifen konnten. So hat sich das Programm durch den gegenseitigen Austausch ständig verfeinert.

„Ich erlebte, wie Konflikte und Verletzungen oft unfassbar tief sind – so tief, dass auch ein Aikido Training scheinbar nichts zu bewegen vermag, ja selbst ein gemeinsames Training oft nicht einmal möglich ist. Ich erlebte, wie Teilnehmer sagten: ‚Wunderbar, wir haben miteinander trainiert, aber vergiss nie, dass du trotzdem mein Feind bist!’ Dies sind Realitäten, in denen Liebe und Harmonie nur noch für ‚den eigenen Clan’ gelten und nicht darüber hinaus reichen.

Vor fünf Jahren fand das erste ‚Training accross borders’- Projekt in Zypern statt – vier Tage Aikido auf der Demarkationslinie der geteilten Insel - unter dem Patronat von Dom Levine und Richard Heckler. Es waren über 100 Teilnehmer auf der Matte, es wurde trainiert und diskutiert. Es war ein einmaliges eindrückliches Erlebnis für alle. Im Nachhinein aber auch ernüchternd, weil sich wenig daraus weiter entwickelt hat. Für die viele Teilnehmer waren es auch vier paradiesische Tage auf Zypern, fern vom täglichen Kampf ums nackte Überleben.

Die Teilnehmer aus dem Irak mussten wieder zurück in ein Kriegsgebiet, das immer mehr eskalierte und Viele später in die Flucht trieb. Es nahmen Menschen an diesem Anlass Teil, denen bereits ein nichtkonformer Gedanke das Leben kosten kann und für die allein die Teilnahme schon eine Gefahr mit sich brachte. Die Fronten sind durch die aussichtslose Situationen so fest gesetzt, dass keine Öffnung möglich scheint. Deshalb entstand die Idee, in der neutralen Schweiz einen Ort für weitere interkulturelle Aikido-Projekte zu schaffen.

Aikido Zürich trägt mit diesem Projekt einen kleinen Beitrag bei zu einem Friedensprojekt an Orten wo keine und wenig mehr Hoffnung besteht. Getragen von der Vision, dass wir Menschen, wenn wir uns begegnen, die Möglichkeit haben einander verstehen zu lernen. Von der Vision, dass nur durch die Begegnung von Mensch zu Mensch eine Lösung im Kleinen möglich wird.“

Würden Sie unseren Lesern erklären, wie und warum Sie mit Aikido angefangen haben?

„Im Alter von ca. 18 Jahren habe ich mit Willi Frischknecht [Aikidojournal N°20 - 4/99] in Schönengrund begonnen. Aikido wurde damals von vielen interessanten Menschen ,u.a. Freddi Jacot, getragen, die etwas Größerem folgten, das damals im ganzen Ausmaß für mich nicht fassbar war, das mich aber magisch angezogen hat. Es war eine spirituelle Dimension die für mich neu war, aber eben über die Bewegung im Ansatz erlebbar.

Jahre später hat sich diese Erfahrung bezüglich der Spiritualität im Aikido aber auch wieder relativiert. Später arbeitete ich intensiv über zehn Jahre mit Ikeda Sensei und ging danach zu Saito Sensei nach Japan, um dort als Uchi Deshi in einem traditionellen System zu trainieren. Ich trainierte 1981 in San Francisco auch intensiv mit Bruce Klickstein und Frank Doran, und besuchte damals regelmäßig Aikido Camps mit Terry Dobson und Robert Nadeau, „

Ist Iwama traditionell?

„Ja, zumindest 1980 war Iwama noch urtümlich und traditionell. Iwama war damals noch nicht so bekannt und überlaufen wie einige Jahre später, wo so etwas wie ein Iwama Tourismus einsetzte.

Leute kamen zum Teil für drei oder vier Wochen, ohne wirklich anzukommen reisten sie wieder ab und schrieben später Berichte, mit denen sie in Europa hausieren gingen.

Am Anfang in Iwama musste sich jeder zuerst beweisen, Saito Sensei kannte damals auch die Schweizer nicht und ich war gezwungen die ersten drei Monate außerhalb des Dojos zu leben. Erst nach dem ich mich durch eine gute Haltung bewiesen hatte, durfte ich als Uchi Deshi im Dojo einziehen. Zu jener Zeit waren unter anderem Mark und Ute van Meerendonk dort, die eng mit Saito Sensei verbunden waren. Bedingt durch meine eher zurückhaltende Persönlichkeit war ich nie in dem engeren Gefolge und dachte oft, dass Saito Sensei mich gar nicht wahrnimmt. Zwischendurch ging ich auch regelmäßig in Zen Sesshins, was damals eher aussergewöhnlich war und heimlich ging ich manchmal auch ins Hombu Dojo.

Am Ende meines ersten Aufenthaltes in Iwama schenkte mir Saito Sensei zum Abschied seine Dogi Jacke und seinen Gürtel was mich tief berührte. Es war ein sehr persönliches Geschenk und es wurde mir bewusst, dass er, für mich unbemerkt, sehr wohl beobachtete, wie ich mich in das Leben in Iwama eingefügt habe.

Saito Sensei war für mich eine Persönlichkeit, zu der ich immer eine tiefe Beziehung behalten werde; ich erlebte ihn integer und klar und er hat uns Ausländer entgegen der gängigen Tradition sehr stark unterstützt.

Das Leben in Iwama war im Vergleich zu einem normalen Aikido Seminar eine viel tiefere Erfahrung und das Training war wirklich traditionell: Im Dojo leben, schlafen und nebst dem Training arbeiten und kochen, alles auf dem Lande, auf sehr engen Raum. Das physische Training ist nur ein kleiner Teil der Lernerfahrung, die unausweichliche psychische Auseinandersetzung mit Aikido, dem minimalen Leben auf diesem engen Raum war für mich eine besondere Erfahrung.

Ich übte regelmäßig frühmorgens Zen-Meditation für mich allein, was für mich als Ergänzung sehr wichtig war. Im Frühling, mit dem Blühen der Pflanzen, Sträucher und Bäume bin ich mit einer kleinen Gruppe zusätzlich vor dem Morgentraining täglich auf den Atago-san gerannt – der Berg in Iwama, auf den sich O Sensei von Saito in einem alten Film schieben ließ. Der normale Alltag war sehr einfach, ohne jeglichen Luxus, wir schliefen im Dojo, wo wir täglich trainierten, auf unseren Futon. Zwischendurch wurde aber auch gefeiert, gut gegessen und für die, die es suchten auch ausgiebig Alkohol konsumiert.

Das Training in Iwama war etwas Besonderes und die meisten die dort waren, gaben ähnliche Rückmeldungen. Diese physische Intensität führte wie zu einer verstärkten Entwicklung der unteren Chakren und setzte so Ressourcen frei, zu denen ich früher keinen Zugang hatte. Für den inneren Ausgleich war deshalb für mich das regelmäßige Meditieren und Praktizieren der Atemübungen, die ich von Tada Sensei gelernt hatte sehr wichtig. Während dieser Zeit ging ich auch dreimal in ein Zen Kloster für je 7 Tage, in ein Zen-Sesshin. Nach ca. drei Monaten in Iwama ging ich zu Saito Sensei und bat um die Erlaubnis ein Zen-Sesshin besuchen zu dürfen bei einem Pater Lassalle, einem Jesuiten Priester – er schaute mich lange schweigend an und war wohl erstaunt, weil dies nicht üblich war unter den Uchi Deshis; er nickte und sagte nur gut du kannst gehen. Diese Zen-Sesshin waren eine sehr wichtige Erfahrung für mich, auf anderer Ebene vielleicht eine der härtesten in meinem Leben.

Das erste Mal war ich ca. 11 Monate in Iwama, in den folgenden Jahren ging ich meistens für 4 bis 5 Wochen. Einmal mit einer Gruppe aus der Schweiz. Dieser Besuch hatte allerdings auch seine Schattenseiten, weil sich einige meiner Gruppe nur schlecht in das Leben als Uchi Deshi einfügen konnten. Es kam zu Konflikten für die ich aus Sicht der japanischen Tradition gerade stehen musste. Ich erlebte während diesem Aufenthalt im Training persönlich manchmal eine Härte, die ich nicht mehr aufnehmen konnte. Ich bin Psychotherapeut und nicht ein reiner Kraftmensch, diese Erfahrungen taten mir nicht mehr gut und es wurde für mich klar, dass ich für mich weiter suchen musste.

Iwama birgt immer noch viele Erfahrungen in sich und wenn immer ich nach Japan reise, besuche ich sicher das Dojo und den Atago-San. Wenn ich dort bin, fühle ich sofort die Erinnerungen auf meiner Haut, im Körper. Da fällt mir gerade eine Iwama Geschichte ein. Einmal war ein Anlass mit vielen Gästen, die zum Teil im Dojo übernachteten. Deshalb musste ich mit anderen Uchi Deshis im Zimmer von OSensei übernachten.

Es war Frühling, am Morgen öffneten wir die Schiebetüren, es regnete und wir blickten auf den Garten; plötzlich fing die Erde an zu beben, alles bewegte sich und ich war ganz ruhig – ich spüre das heute noch, diesen Duft der Pflanzen, die Feuchtigkeit des warmen Regens und die sich bewegende Erde, diese Erfahrung sitzt sehr tief…

Zusammenfassend kann ich zu Iwama sagen: wir übten Grundlagen, Basistechniken und trainierten täglich Waffen – zusätzlich zu diesem Training kam ein anderer Teil, die Einfachheit des Lebens, der klösterliche geschützte Raum, das mönchische Leben in der Gruppe, die Natur, all das war mir noch viel wichtiger.“

Ich sehe auf Lehrgängen des Takemusu-Stils immer wieder, dass man gerne eigentlich nur statisch arbeitet.

„Als ich dort hinging, war ich Braun-Gurt und hatte zuvor mit Ikeda Sensei in der Schweiz trainiert. In Iwama, als ich kaum den ersten Schritt auf den Matten machte, schrie Saito Sensei etwas und alle saßen schnell im Seiza. Ich verstand noch nichts und bemerkte erst nach einiger Zeit, dass ich der Grund des Anstoßes war.

Jemand neben mir übersetzte mir kurz und zog mich von den Matten. Mein Gürtel war nicht richtig gebunden und die erste Lektion war lernen den Gürtel richtig zu binden. Das war der Einstieg und auch zwei Wochen später konnte ich im Training immer noch nicht sicher tai no henko mit den sempai's.

Nichts meiner bisherig gelernten Techniken funktionierte, ich wurde gezwungen die Grundlagen völlig neu lernen, die Griffe, Techniken mit all den exakten Winkeln, die Konsequenz in der Ausführung. Meine schlanke eher große Körperstruktur erschwerte zusätzlich diesen Lernprozess, ich wurde anfänglich tagtäglich an meine körperlichen und psychischen Grenzen gebracht und spielte oft mit dem Gedanken auszusteigen. Rückblickend bin ich trotzdem froh, dass ich durchgehalten habe, ich habe in vielerlei Hinsicht viel in Iwama auch für meine ganzes Leben gelernt.“

Würden Sie das, aus Ihrer heutigen Sicht, noch einmal machen?

„Nein, in meinem Alter heute nicht mehr, andere Prioritäten zählen, ich brauche einen anderen Austausch mit Menschen über Dinge im Leben die mich beschäftigen. Iwama damals mit Saito Sensei war aber eine Lebensschule, die ich nicht missen möchte, diese Trainingskonzept in Iwama, auf dem Land, weg von aller Stadthektik, mit all den Grenzerfahrungen war damals gut und richtig für mich. Heute kann ich die Ruhe der Natur, Aikido und Meditation, die spirituelle Erfahrung auch hier in meiner Heimat finden.

Iwama ist für mich mit einer tiefen Qualität verbunden, auch wenn ich überzeugt bin das Spiritualität und Transformation damals im Training keine besonderen Platz hatten, es war vorwiegend über die Intensität des Uchi Deshi Lebens eine Transformation über die ständigen Grenzerfahrungen die wir erlebten und denen wir nicht ausweichen konnten. Wir lernten auch viel über Gruppendynamik und dabei über uns selbst und ich schätzte noch heute diese Qualität die aus der Einfachheit und Klarheit wie wir lebten und trainierten heraus täglich entstand.“

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