»Angsthäschen!«

… meine Anfänge – mein erster Aikidō-Lehrer


Thomas während unseres Interview mit Watanabe Sensei

Vor mir steht Norbert van Soest, mein Aikidō-Lehrer in Bielefeld ab Mitte der 70er für gut sechs Jahre, Leiter der dortigen Budō-Schule, hochgraduierter Jūdō-ka und Jū-Jitsu-ka, 1. Dan Karate und 3. Dan Aikidō. Ein Profi. Ich soll ihn angreifen, damit er die nächste Technik vorführen kann. Er ist so groß wie ich, aber in den Schultern deutlich breiter und insgesamt kräftiger. Offensichtlich beeindruckt mich das so sehr, dass ich ihn nicht wirklich angreife. Und natürlich nimmt er das wahr, bevor ich ihn überhaupt berühre.

»Angsthäschen« – Das heißt, noch mal von vorne und diesmal aber richtig angegriffen. Norbert bestand darauf. Sein Aikidō war wirkungsvoll aber nicht brutal. Mir Schmerzen zu geben, war nie sein Ziel, sondern die Kontrolle über meine Bewegungsmöglichkeiten zu bekommen. In seine Budō-Schule kamen viele angehende Polizisten von der Bielefelder Polizeischule. Etliche kamen auch zum Aikidō, hielten das aber eher für eine Softie-Kampfkunst. Sie lernten schnell, dass dies zumindest bei Norbert so nicht zutraf. Wir lernten bei Norbert das Angreifen. Er ließ uns mit Pratzen üben und auch mit Körperkontakt. Wir sollten keine Angst davor haben, getroffen zu werden und Schmerzen zu spüren. Wir lernten auch Angriffssequenzen. Nicht nur einen Chudan Tsuki  突き vortragen und dann stehenbleiben und abwarten, sondern gleich den zweiten und dritten hinterher.

Bei meiner Prüfung zum 1. Kyu bei Meister Katsuaki Asai bekam ich wie alle anderen Prüflinge auch zwei Uke zugeteilt. Aber offensichtlich war es zu anstrengend mit mir und Meister Asai stellte einen dritten Uke dazu. Als die Prüfungen vorbei waren, gab er sein Urteil zu den Prüfungen. Bei mir sagte er, ich habe die Prüfung bestanden und dann fragte er: »Trainieren Sie in Bielefeld immer so?« Meine Antwort, laut und klar und stolz: »Ja, Meister Asai!« und er lachte dann, was ich als Zustimmung auffasste. Als ich aber das Dōjō verließ, sprach mich einer meiner Uke an und fragte: »Sag mal, bist Du bescheuert, dass Du so hart da rein gehst?« Ich erinnere mich an keine Antwort von mir, aber ich dachte sicherlich: »Wenn Du das nicht abkannst, dann musst Du das eben lassen.« Soweit ich es selber erinnere, habe ich in dieser Zeit keinen meiner Partner verletzt. Aber ich war wohl bei etlichen wegen meiner Härte und auch meiner Kondition nicht so beliebt.

Anfang der 90er Jahre ging ich regelmäßig auf die Seminare von Nobuyuki Watanabe Sensei, die er zweimal in der Nähe von München im Seminarhaus Birach abhielt. Mich beeindruckte seine Aikidō-Interpretation sehr, verstand aber überhaupt gar nicht, was er genau machte. In jedem Fall spürte ich bei ihm keinerlei Härte und trotzdem war das überzeugend. Manchmal sah es nach gar nichts aus, keine Artistik, keine »großen« Bewegungen, nur einen Finger heben oder sogar nur die Augen schließen und öffnen. Minimalistisch. Ich wollte das zumindest verstehen und wenn es geht auch können. Also versuchte ich mich darin, Härte und Geschwindigkeit aus meinen Bewegungen raus zu nehmen.

»Rambo!« – Das war es, was ich oft von Watanabe Sensei hörte, wenn er, während wir übten, an mir vorbei kam. Er murmelte es so vor sich hin. Und ich dachte: »Mann, ich bin jetzt schon so soft, softer geht doch gar nicht mehr!« – »Rambo!« war das Einzige, was ich trotz aller meiner Bemühungen hörte. Meine Beobachtungen seiner Bewegungen alleine brachten mich nicht weiter. Watanabe Sensei half mir dann aber, indem er mich spüren ließ, wie seine Bewegungen ablaufen und er sagte auch etliches über die innere Haltung, die man beim Aikidō einnehmen sollte: Zugewandt, einladend, freundlich. Unabhängig davon, wie der Andere auf einen selber zukommt und mit welchem Angriff.
Doch wirklich geholfen hat mir dann Folgendes, was Watanabe Sensei irgendwie mal so nebenher sagte und zeigte. Man solle kurz bevor der Uke mit dem Angriff startet, die Augen kurz schließen und in dem Augenblick sterben, sich vorstellen, der Andere ist stärker, es ist alles vorbei. In dem Augenblick, wenn man die Augen wieder öffnet, sehe man alles, wie es ist. Das erscheint mir sehr plausibel, denn gerade in Gefahrensituationen entscheidet bei uns im Gehirn die Amygdala, Mandelkern, ob wir fliehen oder kämpfen sollen. Sie bekommt vor allen anderen Abteilungen im Gehirn die Informationen aus unserer Wahrnehmung. Durch das kurze Augenschließen bekommt die Amygdala kein Futter für ihre unbewussten Vorurteile und die innere Haltung, es sei alles vorbei, bringt sie in eine friedlichere Stimmung. Das ermöglichte es mir, das zu tun, was sich in dem Augenblick anbot, um selber nicht getroffen zu werden und dass meinem Partner nichts Unangenehmes passiert.

Ob ich nun immer noch ein »Rambo« bin oder mich so verhalte, kann ich nur subjektiv beurteilen. Die Aikidō-Techniken bleiben weiterhin wirkungsvoll und es gibt weniger Beschwerden von meinen Partnern. In jedem Falle fühle ich mich selber besser.

Es gibt immer wieder Diskussionen, ob Aikidō eine wirkungsvolle Kampfkunst ist. Ich habe eine Zeit lang eine solche Diskussion auf AikiWeb verfolgt, ohne einen Beitrag dazu zu verfassen. Aber es ist ja eine Diskussion, die ich immer wieder erlebt habe, mit Aikido-ka, anderen Kampfkünstlern und Anfängern oder Interessierten. Im Folgenden gebe ich ein paar Argumente, warum aus meiner Sicht Aikidō eine hoch-effiziente Kampfkunst ist und warum es so schwierig ist, sie so zu lernen, dass diese Effizienz erhalten bleibt ohne brutal zu werden.
Wenn wir die einzelnen Aikidō-Techniken analysieren, dann stellen wir fest, dass sie alle darauf ausgerichtet sind, maximalen Schaden anzurichten: Würden wir die Wür


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