Kei Izawa

Generalsekretär der IAF


Kei während unseres Gespräches in Kiew – April 2015.

Erinnerst Du Dich noch, wann Du mit dem Aikido anfingst? Wieso hast Du Aikido ausgewählt?

Kei Izawa: Vor langer Zeit habe ich mich absolut nicht für Kampfkünste interessiert. Ich bin in Südamerika aufgewachsen und mochte Fußball und Schwimmen … Ich mochte vieles, aber Kampfkünste waren für mich … Ich konnte nichts damit anfangen. Ich interessierte mich nicht dafür, aber als 1969 ein Freund meines Vaters zu Besuch kam – er war Pilot bei der japanischen Selbstverteidigungseinheit – tat sich ein anderer Weg auf. Er war jünger als mein Vater und noch im Dienst. Als wir uns unterhielten, fragte er mich, ob ich eine Kampfkunst trainieren würde. Ich antwortete mit nein und sagte ihm, dass ich kein Interesse hätte. Da sagte er: „Wie wäre es, wenn ich dich mal mitnehme. Würdest du mitkommen und es dir mal ansehen?” So kam ich zum Aikido-Hombu-Dojo. Er nahm mich mit und ich sah ein Training im Hombu-Dojo. Leichtsinnig dacht ich: „Wow, das ist ja einfach. Vielleicht kann ich das auch.” Ich unterschätzte die Komplexität des Aikido. Ich wusste nicht, welchen Fuß ich bewegen sollte oder welche Hand gerade dran war. Ich fühlte mich unwohl, weil ich nicht mal meine eigenen Bewegungen im Griff hatte. In dem Moment wurde es mir klar und ich dachte: „Wow, das ist eine wirklich spannende Kunst.“ Damals dachte ich nicht an den Kampf, allein die Körperkoordination faszinierte mich. So begann alles. Es waren also weder Filme noch sonstige Einflüsse, nichts dergleichen. Ich hab nicht einmal irgendeine Art Kampffilm gesehen, das hat mich nicht interessiert.

Und ’69 …?

’69 war ein schwieriges Jahr. Die Studentenaufstände … Ja, es gab viele Aufstände radikaler Studenten.

Auch in Japan?

Ja. Die Zugangsklausur für die Tokioter Universität wurde gestrichen aufgrund von studentischen Aufständen in dem Jahr, in dem ich mitschreiben wollte. Das war wirklich ein großer Schock für mich. Es war eine schwere Zeit, schließlich fing ich an der Keio University an zu studieren, eine sehr prestigeträchtige Universität in Japan, aber auch hier gab es diese Probleme. Der ganze Campus wurde dominiert von den studentischen Aufständen der Linksradikalen, weswegen ich mich einer Gruppe anschloss, die diesen linksradikalen Studenten Einhalt gebieten wollte. Mir lag etwas daran, die Freiheit des Studierens zu erhalten. Ich konnte damit leben, dass sie selbst nicht studierten, aber dass sie mich am Studieren hinderten, war nicht in Ordnung. Sie wollten die bürgerliche Universität zerstören.

Revolution! (beide lachen) Also bist Du im Hombu-Dojo auf das Aikido gestoßen?

Ja.

Direkt? Also nicht über die Universität?

An der Universität habe ich Nippon Kempo trainiert. Im Training waren wir eine Gruppe von Studenten, die angenehmere Bedingungen an der Universität wollten, also trainierten wir, um zu kämpfen. Für mich hatte Aikido nichts mit Kampf zu tun. Es ging für mich eher um das physische und mentale Bewusstsein, weswegen bei mir die Verbindung zwischen Aikido und Kampf schlicht nicht existierte. Bei Kampf dachte ich eher an Nippon Kempo – mit Vollkontakt und Schutzkleidung wirklich jemanden schlagen.



Und Budo?

Ja, bezüglich Budo … Mein Haupttraining war immer am Morgen bei Kisshomaru Doshu, aber ich habe auch bei Osawa Shihan, dem Vater, trainiert. Samstagmorgen genoss ich sehr das Training von Sasaki Masando Shihan und am Abend lernte ich von Koichi Tohei Sensei und Arikawa Sensei, Yamaguchi Sensei und einigen anderen. Damals habe ich viele Lehrer kennengelernt, dennoch bemerkte ich das Konzept des Budo nicht. Ich lernte immer noch, mir meines eigenen Körpers bewusst zu sein und vielleicht gehöre ich auch zu denen, die sich nur langsam entwickeln, ein Spätzünder in dieser Hinsicht. Ganz besonders habe ich natürlich das Training bei Kisshomaru Doshu genossen, aber beispielsweise auch bei Osawa Shihan, Sasaki Shihan und Tohei Sensei. Jeder hatte seinen ganz eigenen Reiz, ich konnte durch sie die unterschiedlichen Interpretationen sehen, aber ganz ohne den Gedanken, Teil eines Samurai-Konzepts zu sein. Das Buch der Fünf Ringe  hatte ich auch nicht gelesen. Für mich gab es da keine Verbindung.

Wann bist Du nach Amerika gegangen und warum?

Ich habe dort für eine Behörde der Regierung gearbeitet und bekam ein Stipendium, um an der Harvard Graduate School zu studieren. Das war 1976, damals hatte ich gerade meinen 2. Dan gemacht und Osawa Sensei schrieb einen Brief, in dem er mich Kanai Sensei in Cambridge vorstellte. Außerdem sagte er mir: „Da du bist jetzt so fleißig im Hombu-Dojo trainiert hast und nun nach Cambridge, Massachusetts gehst, solltest du Kanai Sensei unbedingt einen Besuch abstatten.“ Und dann wurden meine Augen schlagartig geöffnet. Kanai Sensei war damals gerade einmal 35 oder 36 Jahre alt und vielleicht zehn Jahre in den USA. Als er dorthin kam, wog er ca. 65 kg und musste Aikido mit 90 oder 100 kg schweren Amerikanern machen – das trifft zumindest auf die Mehrheit zu. Als ich also in sein Dojo am Central Square in Cambridge mit meinen 2. Dan kam, dachte ich, ich würde mich gut unter die Amerikaner mischen können. Zu meiner Überraschung war mein Aikido keines Falls auf Augenhöhe mit dem von Kanais Schülern; ich war sehr schockiert. In meiner ersten Stunde zeigte Kanai Sensei einen Futari Gake/ Ninin Gake und dann fassten zwei Menschen jeweils einen meiner Arme, einer von ihnen war nicht einmal ein Schwarzgurt … Sie waren beide sehr groß. Einer war Lou Periello, er ist vor einigen Jahren verstorben, und der andere James Keller, er war Türsteher in einer irischen Bar, demzufolge hatte er sehr große Arme und die beiden haben mich hochgehoben (lacht) und kopfüber wieder nach unten gebracht. Das war sozusagen mein Willkommensgruß. Ich denke nicht, dass es eine Anordnung von Kanai Sensei war, aber mein Aikido aus Japan zeigte dort keine Wirkung. Viele Japaner wären sicherlich gegangen und nicht wiedergekommen, weil die Amerikaner den frisch angekommenen japanischen Schwarzgurt ärgern wollten. Zudem war Kanai Sensei damals sehr introvertiert; er sprach nicht. Er sagte auch nichts, als das mit mir passierte und auch sechs weitere Monate nicht. Wir begrüßten uns nur und ich ging einfach weiter hin. Und als er sah, dass ich weiterhin kam, auch wenn ich dieses eine Mal bloß gestellt wurde (lacht) – um es mal gelinde zu formulieren –, begann er sich zu öffnen. Es hat wirklich einige Zeit gedauert, bis ich ein Gespräch mit ihm führen konnte. Nach einem Jahr gingen wir manchmal mit Chiba Sensei zu Flohmärkten oder Antiquariaten, um nach Schwertern zu suchen. Da begann Kanai Sensei auch mir von Iai zu erzählen und mich darin zu unterrichten.

Er hat mir sogar zum Abschied ein Wakizashi und ein Katana geschenkt, damals hatte ich selbst auch schon ein Schwert gekauft. Bis heute besitze ich nicht so viele, aber Kanai Sensei hat damals meine Augen für etwas geöffnet, dass vielen Japanern bis heute verborgen geblieben ist: Die Schönheit des Schwertes und seine umgebende Philosophie. An diesem Punkt begann ich den Geist es Budo zu sehen und auch zu verstehen, Kanai Senseis Lehre eröffnete mir das. Er lehrte mich auch den Blick für Details, beispielsweise für die Hamon. An seinem wenn auch kleinen Büro hing ein Schild, auf dem Tekkoan (鉄枯庵) stand. „Tekko“ (鉄鋼) oder „tetsu“ (鉄) steht im Japanischen für Eisen, „ko“ kommt von kareru (枯れる) und bedeutet, dass etwas verwelkt, „an“ (庵) ist eine kleine Hütte. Das war seine Welt, dort hatte er seine Schwerter, seine Werkzeugkiste, seine Bücher, dort konnte er sich entspannen, er hatte wirklich ein außergewöhnliches Wissen über Schwerter, dieses Level habe ich nie … Sagen wir mal, ich habe die Oberfläche von seinem Wissen über Schwerter gestreift. Dennoch habe ich ihn ins Bostoner Museum begleitet, wo er mir die Unterschiede der einzelnen Schwerter und vieles mehr erklärte. Er sagte immer: „Das Eisen lügt nicht.“ Mein Kohai und dokei (wegbegleitender Freund), Yasumasa Itoh, eröffnete nach Kanai Senseis Tod das Tekkojuku-Dojo (http://aikidotjboston.org/).

Ich denke, dass Kanai Sensei sich jemanden gewünscht hat, mit dem er Japanisch sprechen konnte, weil er im Englischen nicht sehr versiert war. Er bat mich auch, sein Übersetzer zu sein und so begleitete ich ihn auf etliche Seminare. Außerdem liebte er das Angeln so sehr, dass er mich oft unterrichten lies, um selbst angeln gehen zu können (lacht). So erlangte ich stückweise sein Vertrauen und wurde schließlich sein Assistent und Lehrer für die zweite Stunde am Abend. Damals studierte ich in Havard, was ebenfalls sehr vereinnahmend war, aber für mich war das, was ich in Havard lernte, sehr intellektuell und das, was ich von Kanai Sensei lernte, sehr viel tiefer. In Havard schloss ich viele gute Freundschaften und solche Sachen, aber obwohl ich von der japanischen Regierung gefördert wurde, um das amerikanische System und seine Bildung kennenzulernen, denke ich eher, dass ich in Boston etwas über Japan gelernt habe (lacht). Das war also die Zeit, in der sich meine Augen etwas für die Kampfkünste öffneten.

Bist du denn bei Kanai geblieben?

Kanai Sensei fragte mich, ob ich nicht meinen Job kündigen und stattdessen bei ihm bleiben wollte. Er sagte: „Du kannst mir dabei helfen, Aikido hier zu verbreiten.“ Zu dieser Zeit musste ich allerdings zurückkehren, da ich Stipendiat war und die Pflicht hatte nach fünf Jahren zurückzukehren, das war eine ungeschriebene Bedingung. Als ich nach Japan zurückkam, ging ich ins Hombu-Dojo. Ich war ein neuer Mann, sehr übermütig und aggressiv, weil ich mich wie neu geboren fühlte und ich glaube, viele hielten mich damals für seltsam, von einer anderen Welt … Auch der damalige Doshu hatte mich damit aufgezogen. Er sagte immer: „Izawa-san ist wirklich ein freundlicher Mensch, aber wenn er auf die Matte geht, verwandelt er sich.“ Ich mochte große Bewegungen, die ich in Cambridge von Kanai Sensei gelernt hatte, aber in Hombu war das etwas schwierig aufgrund des begrenzten Platzes. In Hombu machte jeder sehr elegante Bewegungen, aber sehr kraftvolles Aikido mit der Limitierung des Raumes, doch durch meine Erfahrungen bei Kanai Sensei lernte ich Aikido in einer ausladenderen  Form lieben. Hombu-Aikido ist zwar die Grundlage, aber ich wollte plötzlich mehr. Die gezeigten Techniken in Hombu hatten zwar diese gewisse Dynamik in ihrem Aikido, aber der Unterricht schien sich eher mit dem begrenzten Platz und den Limitierungen zu beschäftigen. Nichtsdestotrotz war es großartig, dieses Aikido als eine der letzten Disziplinen Osenseis kennenzulernen.

Als sie eine Anfängerin im Aikido war, lernte ich auch meine spätere Frau kennen. Wie ich bereits erwähnte, war ich sehr übermütig. Sie war im Anfängerkurs und ich wollte etwas vermitteln, indem ich mir andere Schwarzgurte nahm und sie protzig durch die Gegend warf (beide lachen). Damals unterrichtete Okumura Sensei die Anfängerstunde, er sagte zwar nicht viel, aber ich denke, er fühlte sich sehr gestört durch mein unbesonnenes Verhalten (weiteres Gelächter). Deswegen dachte meine Frau, ich wäre ein Proll, aber sie mochte mich sehr, deswegen ist es dann so gekommen. (Gelächter) Das ist die Wahrheit. (weitere Lacher) Es gibt nichts zu verbergen. 1982 wurde ich dann nach Mexiko entsandt. Ich hatte sehr viel zu tun, da Mexiko auf externe Finanzierungsunterstützung angewiesen war und die Arbeit für die japanische Regierung erforderte viele Stunden Arbeit. Ich musste mich in dieser Zeit mit siebzehn japanischen Banken auseinandersetzen, die in Mexiko ansässig waren, um die Politik der mexikanischen Regierung zu verstehen, die zu dieser Zeit sehr chaotisch war. Mexiko ging davon aus, dass nach der zweiten Ölkrise 1979 …

Die erste war ’73, oder?

Ja, ’73 und die zweite ’79. Sie gingen davon aus, dass die Ölpreise weiter steigen würden, deswegen liehen sie sich Geld von Übersee, investierten viel, dabei nahm die Inflation ihren Lauf, weswegen sie Tortillas, Brot und Benzin für die Öffentlichkeit subventionierten. Bald stabilisierte die Ölkrise den Ölpreis, sodass der Ölverdienst abnahm. Dadurch geriet Mexiko in eine Finanzkrise, wodurch sie ihre Schulden nicht mehr tilgen konnten. 1982 beschloss die mexikanische Regierung, Devisenbewirtschaftung als Ausweg zu nutzen. Wegen dieser Umstände hatte ich eine ausgesprochen schwierige Zeit in Mexiko, erschwerend kam hinzu, dass General Motors zu dieser Zeit auch mit der Toyota Automobilgesellschaft über eine gigantische Investition in Fremont, Kalifornien verhandelte, weswegen sie einen Japaner suchten, der sich in diesem Team einbringen würde. Absurderweise fanden sie mich in Mexiko und luden mich zu einem Vorstellungsgespräch in Detroit ein. Obwohl ich mehrfach ablehnte, stimmte ich schlussendlich doch zu, da die Situation in Mexiko nichts Neues hervorbrachte und Tag für Tag erschöpfend war, weswegen ich mich dafür entschied, bei General Motors anzufangen und zog schließlich nach Detroit, Michigan. In dieser Zeit hatte ich keinen Kontakt zum Aikido, außerdem war ich Teil des Verhandlungsteams von GM, das zu Toyota und später auch zur Suzuki Automobilgesellschaft flog. Von ’84 bis ’87 beschränkte sich mein Aikido-Kontakt auf meine Besuche bei Kanai Sensei, einen Sommerlehrgang im Hombu-Dojo. ’87 bin ich dann nach England gezogen für ein Gemeinschaftsprojekt von GM und der Isuzu Automobilgesellschaft. Schließlich gründete ich dann ein Dojo, einen kleinen Verein im Betrieb in Vauxhall und besuchte viele Dojos in England. Damals konnte ich viele Freundschaften schließen, die mich bis zum heutigen Tag begleiten; erst kürzlich habe ich einen Brief aus Liverpool erhalten von einem Schüler aus dieser Zeit, wir sprechen so von ’87/’88. Der frühere Leiter des Dojos war verstorben und einer seiner jüngeren Schüler ist jetzt der Dojo-Cho. Mithilfe des Internets konnte er mich finden und sucht nun wieder den Austausch. Ich habe diese Zeit wirklich in guter Erinnerung behalten.

Danach wurde ich nach Japan versetzt, ursprünglich um dort stellvertretender Vorsitzender der Adam-Opel-Niederlassung zu sein, aber später wurde ich Generalsekretär in Japan. Meine Arbeit in Japan war sehr erfolgreich, sodass ich Opel von Platz 0 – es gab Opel damals in Japan nicht – auf Platz 3 der importierten Automarken nach Mercedes Benz und Volkswagen bringen konnte, bevor der Einbruch auf Platz 19 noch hinter Porsche stattfand. Dann wurde ich nach Rüsselsheim versetzt, wobei ich dort nur sechs Monate verbrachte. GM und die Abteilung für technische Entwicklung in Rüsselsheim befanden sich in einem beständigen Konflikt mit den USA …


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