Integration


Markus Hansen …

Die Container sind bummelig sechs Meter lang und keine zweieinhalb Meter breit. Zwanzig Fuß mal acht Fuß, wenn man genau sein möchte. Ein ISO-Standardmaß, um Rohstoffe und Waren auf Schiffen, Zügen und LKW komfortabel und einfach zwischen den Kontinenten hin und her transportieren zu können. In diesen Containern hier befinden sich keine Handelswaren, sondern Menschen. Die Wege, die sie hinter sich haben, begannen auch auf einem anderen Kontinent, wo sie vor den Grausamkeiten des Krieges flohen. Nun sind sie hier in Norddeutschland, im Flüchtlingscamp, einer sogenannten Erstaufnahmeeinrichtung. Sie werden mit Foto und Fingerabdrücken erfasst und den Kreisen des Landes zugeteilt, wo sie dann auf die Bearbeitung ihrer Asylgesuche warten.

Eine Freundin aus unserer Kieler Aikido-Gruppe arbeitet hier. In Absprache mit der Leitung des Camps führt sie meinen Nachwuchs und mich herum, zeigt uns, wie die Menschen hier leben, was hier alles mit ihnen passiert, erklärt Zusammenhänge und Hintergründe. Zu viert stehen wir in dem Wohncontainer. Vier Betten und Schränke füllen die nicht einmal 15 Quadratmeter ganz gut aus. Die Zimmertüren zuknallen, wenn Bruder und Schwester sich mal wieder um Belanglosigkeiten streiten? Keine Chance. Bei gutem Wetter kann man wenigstens raus, sich aus dem Weg gehen, aber ansonsten ist dieser Container das ganze Zuhause. „Immerhin haben wir hier Container, in anderen Orten sind es nur Zelte“, wird uns erklärt.
Die Kinnings wissen, dass die Wurzeln unserer Familie vielfältig sind, wir unter anderem auch von Flüchtlingen abstammen, dass es uns so nicht gäbe, wenn nicht vor Jahrzehnten andere Menschen unsere Vorfahren aufgenommen und integriert hätten. Eine der letzten Erinnerungen einer nahen Verwandten an Danzig besteht darin, dass sie sich verstecken musste, während ihre Mutter von Soldaten vergewaltigt wurde. Danach wurde sie von ihr getrennt, floh mit Nachbarn und wildfremden Leuten kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges über die zugefrorene Ostsee.

Ähnliche Erlebnisse haben die Menschen aus Syrien und anderen Ländern hierher getrieben. Und ähnliche  Berichte kennt hier im Norden fast jede Familie, denn Schleswig-Holstein nahm damals mehr Kriegsflüchtlinge auf als jedes andere Bundesland. Kaum eine Familie hier ist heutzutage ohne Flüchtlingsgene. In einigen Orten lag der flüchtlingsbedingte Zuwachs der Bevölkerung bei 65 Prozent. Im Land kamen drei Flüchtlinge auf vier Einheimische. Das war eine sehr große Herausforderung für alle und lief beileibe nicht reibungslos über die Bühne. Die Parolen, die man heute von rechts hört, die gab es auch damals in sehr ähnlicher Form. Heute allerdings macht die Aufgabe der Integration quantitativ nur einen Bruchteil dessen aus, was damals bewältigt wurde.

Wie das Statistische Bundesamt im März bekannt gab, ist für das Jahr 2015 ein Bevölkerungszuwachs von 1,14 Millionen Menschen, die aus dem Ausland nach Deutschland gekommen sind, zu verzeichnen. Bei einer Einwohnerzahl von rund 81,2 Millionen Anfang 2015 bedeutet dies, dass ein neuer Mensch auf 80 Menschen kommt, die schon da sind. Wenn wir in unserer kleinen Aikido-Gruppe also nur einen Flüchtling aufnehmen, haben wir die Integrationsquote schon mehr als erfüllt.

Der erste war auch schon da, ein aufgeweckter junger Mann von 15 Jahren. Er stammt aus Syrien, spricht fließend Englisch und auch schon die ersten deutschen Sätze. Nachdem seine Betreuerin per E-Mail angefragt hatte, ob er bei uns zu einem Probetraining reinschnuppern dürfte, hatten wir uns ein Konzept überlegt, wie wir damit umgehen, wenn es zu kulturell bedingten Konflikten kommen sollte, und vor allem, wie wir derartige Konfliktfelder möglichst frühzeitig identifizieren können.

Erster Test: Eine weibliche Aikidoka wird den Aspiranten für die ersten Schritte an die Seite gestellt. Sie soll mit ihnen die Rollübungen und einige Techniken durchgehen. Bei unserem ersten Testkandidaten lösen sich unsere Befürchtungen, dass er respektlos gegenüber Frauen sein könne oder gar Berührungen mit ihnen ablehne, schnell in Luft auf. Mit Eifer und Freude nahm er alles an, was ihm gezeigt wurde, probierte es aus, fragte nach, wollte mehr lernen.
Nach dem Probetraining bedankte der junge Mann sich sehr höflich bei uns. Er wird allerdings nicht wieder auftauchen, sondern möchte als Nächstes eine Ballsportart probieren. So, wie wir ihn erlebt haben, wird ihm


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