Was die Gehirnforschung über die Schönheit der Kampfkunst Aikido erklären kann.

Thomas Christaller nach dem Lehrgang mit Watanabe Sensei in Bonn.
Thomas Christaller nach dem Lehrgang mit Watanabe Sensei in Bonn.

Teil II


Aber wie stellt das Auge es an, aus dem hinein projizierten und dem tatsächlich wahrgenommenen Bild eine Aussage darüber zu treffen, ob Erwartungen erfüllt wurden oder nicht und in welchem Umfang? Das Prinzip dafür ist sehr einfach. An jeder Stelle, wo Licht auf die Retina fällt, wird die Differenz gebildet zwischen dem erwarteten und dem tatsächlichen Lichteinfall. Wird dieser Unterschied größer als ein bestimmter Schwellwert, dann gewinnt die Wirklichkeit. So lange das aber nicht der Fall ist, gewinnt das Vorurteil. Und dieser Schwellwert ist veränderbar. Je sicherer wir uns fühlen desto schwieriger kommt die Wirklichkeit durch, egal um wieviel sie sich von unseren Erwartungen unterscheidet. Deshalb ist es so extrem wichtig, möglichst ohne Vorurteil in die Welt zu schauen, insbesondere wenn man sich in einer Kampfsituation befindet.

Eine genauere Analyse des Sehsystems offenbart, dass es mindestens zwei Teilsysteme mit unterschiedlichen Aufgaben gibt. Diese werden als Zäpfchen, zuständig für Farbsehen, und Stäbchen, zuständig für Hell-Dunkel, bezeichnet. Für unsere Überlegungen bilden die Stäbchen das interessantere Teilsystem. Je weiter man von der Augenmitte nach außen geht, findet man immer mehr Stäbchen vor. Deshalb heißt das Sehen basierend auf Stäbchen auch peripheres Sehen. Es ist sehr gut geeignet, um auch unter schlechten Lichtverhältnissen noch etwas zu erkennen, wo die Zäpfchen dann versagen. Deshalb erscheint uns in der Nacht die Welt grau. Doch es gibt noch eine weitere Funktion, die für uns im Aikido sehr wichtig und nützlich ist. Sobald irgendetwas durch unser Gesichtsfeld geht (das ist das Bild, das wir aktuell mit unseren Augen wahrnehmen können), dann verändert sich die hell-dunkel Verteilung dynamisch in charakteristischer Weise. So können wir bei einem Waldspaziergang den Zweig „erkennen“, den wir zwar zurück gebogen haben, der aber jetzt zurück fliegt. Wir nehmen dabei nicht so genau die Gestalt des Zweiges wahr, sondern die Veränderung des hell-dunkel Werts in den Stäbchen, die durch die rasche Bewegung des Zweiges erzeugt wird. Das hilft uns, den Kopf rechtzeitig in Sicherheit zu bringen.

Dieses periphere Sehen wird in allen asiatischen Kampfkünsten unterrichtet, allerdings ohne diese Erklärung (soweit ich weiß). Man soll z.B. einen Punkt hinter dem Partner, Gegner, Angreifer fokussieren und diesem nicht in die Augen schauen. Dieser diffuse Blick sorgt für eine Sensibilisierung des peripheren Sehens. Die Signale der Zäpfchen werden abgeschwächt. Das Auge reagiert in erster Linie auf Veränderungen der hell-dunkel Verhältnisse. Dadurch werden schon Bewegungsansätze erkennbar, ohne dass der Beobachter klar sagen kann, welcher Körperteil sich wie bewegt hat. Dieses Training hilft also, Bewegungen zu erkennen, bevor sie sich voll entfaltet haben, wie z.B. ein Fauststoß oder eine Ausweichbewegung.


 


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